: Polen ist ein Paradies für Türken
Selbstständige Türken hören die Kassen klingeln, wenn von der Osterweiterung die Rede ist. In Berlin geborene junge Türken fürchten sich aber auch: Sie haben Angst um ihre Bau- oder Putzjobs
VON CEM SEY
Mesut schwärmt von Polen. „Man braucht dort sein Geschäft nur ein mal anzumelden, danach gibt es keine Bürokratie“, sagt der Gemüsehändler vom Kottbusser Tor. „Für uns Türken ist Polen ein Paradies.“
Selbstständige Berliner Türken haben Osteuropa kurz nach der Beseitigung des Eisernen Vorhangs erschlossen. Heute gibt es mehrere türkische Kleinunternehmer, die sich östlich der Oder angesiedelt haben. Beliebte Arbeitsfelder: Textilbranche und Gastronomie.
Ahmet Ersöz vom Europäischen Migrationszentrum bestätigt das: „Türkische Unternehmer, die in Deutschland große Erfahrungen gesammelt haben, ziehen jetzt durch Osteuropa und suchen Investitionsmöglichkeiten.“ Er muss es wissen. Denn er sitzt nebenbei im Vorstand des Deutsch-Türkischen Unternehmerverbandes.
Gerade die Türken, die erst kürzlich aus der Türkei in Deutschland eingewandert sind, bekämen mit der Osterweiterung gute Chancen, glaubt Ersöz. „Sie ähneln der ersten Generation Türken in Deutschland. Sie sind sehr mobil und risikofreudig. Die meisten haben auch eine solide Bildung.“
Für die Migrantenkinder dagegen, die in Deutschland das Licht der Welt erblickt haben, sei die Zukunft nicht so rosig. „Die zweite oder dritte Generation der Türken kann man nicht von Berlin wegbewegen“, meint der Migrationsexperte. „Sie werden große Probleme bekommen.“ Welcher Art diese Probleme sein werden, sei auch bekannt.
Nach der Öffnung der Mauer strömten aus Osteuropa Menschen, die ähnliche Qualitäten haben wie die Berliner Türken, in die deutsche Hauptstadt. Sie drangen in die Wirtschaftszweige ein, in denen bis dahin die weniger qualifizierten Türken gearbeitet hatten. Für immer geringere Löhne würden immer mehr Osteuropäer auf Baustellen arbeiten oder nachts die verlassenen Büros der Hauptstadt putzen, berichtet Ersöz.
Das bekommen die Türken in Berlin zu spüren. Sibel Kilincci, eine 37-jährige Türkin, ist gegen die Osterweiterung. Seit 31 Jahren lebe sie in Deutschland, hier sei ihre Heimat, sagt sie. Nach dem 1. Mai könnten sich ihre soziale Rechte verschlechtern, befürchtet sie. „Wir werden den Kürzeren ziehen!“
Ertugrul Akkus geht es ähnlich. Er sei in Mannheim auf die Welt gekommen und vor zwei Jahren nach Berlin gezogen, weil er hier in der türkischen Kultur besser aufgehoben sei, berichtet der 28-Jährige. „Wegen einiger Fehler, die ich in meiner Jugend begangen habe, bekomme ich keinen deutschen Pass“, beklagt er sich und spielt mit seinem Ohrring. Akkus spricht besser Deutsch als Türkisch. „Jetzt haben die Osteuropäer Wahlrecht, ich aber nicht“, empört er sich.
Dennoch nehmen fast alle Türken auch das Positive der Osterweiterung zur Kenntnis: „Sie ist gut für den Frieden“, heißt es immer wieder. Ahmet Ersöz hingegen kritisiert auch die türkische Verbände in der Stadt. Sie hätten sich nicht rechtzeitig auf die Folgen der Osterweiterung vorbereitet. „Sie sind auf die Türkei fixiert. Und die Zypernfrage interessiert sie mehr.“
Der Gemüsehändler Mesut aber blickt optimistisch in die Zukunft. Er hat seinen Platz im Paradies schon längst reserviert. Wie zahlreiche andere junge Berliner Türken hat er die Osterweiterung privat vollzogen: Er hat eine Polin geheiratet.
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