: „Der Pole“ zeigt Aktivität
Gerne sprechen die Deutschen von der „polnischen Wirtschaft“. Ein Schimpfwort ist das allerdings nicht mehr
Die Rede von der „polnischen Wirtschaft“ ist ein Lieblingsgegenstand soziolinguistischer Gelehrsamkeit, was sich aus der außerordentlichen Zähigkeit dieses Stereotyps erklärt. Gemeint ist damit zweierlei. Zum einen, dass „die Polen“ aufgrund ihrer anarchischen Veranlagung unfähig seien, die Ökonomie nach den Kriterium zweckmäßiger Rationalität zu organisieren. Und dass sie – damit zusammenhängend – lieber Sprüche klopfen und auf der faulen Haut liegen statt das Sozialprodukt zu mehren. Das Stereotyp entstammt der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also der Zeit des Niedergangs der polnischen Adelsrepublik, der „Rzeczpospolita“, als sich die Begehrlichkeit der Nachbarn auf polnisches Territorium zu regen begann. Später, im 19. Jahrhundert, wurde „polnische Wirtschaft“ von Schundautoren wie Gustav Freytag als Instrument im großdeutschen „Volkstumskampf“ eingesetzt und popularisiert. Das Stereotyp überdauerte die Weimarer Republik, wurde von den Nazis in Dienst genommen, weste nach 1945 fort, um schließlich in beiden deutschen Staaten nach der Gründung der Gewerkschaft „Solidarność“ einen neuen populären Gipfelpunkt zu erklimmen. Die Polen, so hieß es nun, würden eben lieber streiken und politisieren, als sich ihrer maroden Wirtschaft zu widmen.
Nach 1990 trat eine Akzentverschiebung ein. „Der Pole“ zeigte Aktivität, allerdings nicht zu ehrlicher Arbeit, sondern zu krimineller Bereicherung, beispielsweise mittels Autodiebstahls. Der Knüttelvers „Heute gestohlen, morgen in Polen“ zierte sogar Ansichtskarten, die auf der deutschen Seite grenznah feilgeboten wurden. Was allerdings zahlreiche deutsche Familienvorstände nicht daran hinderte, Heim und Herd den diebischen PolInnen zwecks Saubermachen auszuliefern.
Jetzt, nach den unbestreitbaren (wenngleich teuer erkauften) Erfolgen der polnischen Ökonomie im Transformationsprozess Richtung Marktwirtschaft, gerät das Stereotyp „polnische Wirtschaft“ in die Klemme. In den Augen konservativer Stereotypen-Liebhaber rückt Polen, was Tempo und Ausmaß der „Reformen“ anlangt, sogar zum Vorbild kapitalistischer Rationalität auf. Angesichts des nimmermüden Einsatzes polnischer Schwarzarbeiter insbesondere auf dem Bau, angesichts ihrer Zuverlässigkeit und ihres Geschicks, beginnt sich die Stereotypen-Achse sogar bedenklich zu drehen. Und zwar zuungunsten der „deutschen Wirtschaft“. Ein klassischer Fall von „Changing Reputation“.
CHRISTIAN SEMLER
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