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Weinlese an der Havel

In Werder bei Potsdam, der nördlichsten Einzellage Europas, boomt das Geschäft mit dem Wein. Damit wird eine Tradition fortgesetzt, die im 19. und 20. Jahrhundert vernachlässigt worden ist

VON CHRISTINE BERGER

Natürlich ist Berlin nicht Sibirien, und auf der Havel schwimmen keine Eisberge. Dennoch fängt der gemeine europäische Winzer an zu frösteln, wenn er vom Weinanbau auf dem Werderaner Wachtelberg hört. Der 6,2 Hektar große Weinberg, der offiziell zum Saale-Unstrut-Gebiet gehört, ist die nördlichste Einzellage Europas, was den Anbau von Qualitätsweinen (QbA) betrifft.

Dass aus Werder, einem kleinen Städtchen bei Potsdam, seit etlichen Jahren durchaus trinkbare Rebsäfte stammen (was man von den anderen Obstweinen nicht gerade behaupten kann), hat sich – Pfälzer und Badenser Schmäh zum Trotz – dennoch herumgesprochen, und der Winzer Manfred Lindicke, der seit Mitte der 90er-Jahre den Wachtelberg hegt und pflegt, kann sich über mangelnden Absatz nicht beklagen.

In langen Reihen schwingen die Rebstöcke über die Hochebene des Werderaner Haushügels. Der Wind wirbelt feinen Sand durch die Luft, der den Hügel ganz typisch für die Region bedeckt. Wein in der märkischen Wüste. Unter den rund 30.000 Weinstöcken befinden sich vornehmlich Müller-Thurgau, Saphira und Regent – Letztere zwei pilzresistente Sorten, was schon alles sagt über die Probleme mit der Feuchtigkeit am Ufer der Havel. Auch ein Weinlehrpfad weist den Weg. Fein säuberlich ist jede einzelne Rebsorte ausgeschildert, manche sind noch zu jung, um schon mit Erträgen zu protzen, andere, wie der Chardonnay, werden es in dieser Klimazone wohl nie zur Flaschenreife bringen. Aber egal.

Im Herbst übernehmen Berliner und Werderaner die Weinernte. Kommen zu Hunderten aus ihren Stadtquartieren, um gegen eine warmes Essen und ein paar Flaschen Wein den Buckel krumm zu machen. „Das ist immer ein richtiges Fest“, schwärmt Lindickes Tochter Katharina. Zwei Wochen vor dem Erntetermin initiiert sie einen Rundruf bei allen potenziellen Erntehelfern, die sich seit Jahren auf einer Liste um dieses Event drängeln. Die 34-jährige Hotelfachfrau bewirtschaftet nicht nur die Gastwirtschaft auf dem Berg, sondern kümmert sich auch sonst ums Geschäft mit dem Wein. Statt sich wie sonst um Vertrieb und Verkauf zu kümmern, schmiert Katharina Lindicke für die freiwilligen Erntehelfer Stullen, kocht Suppe und verteilt spezielle Scheren, mit denen die Reben abgetrennt werden. Da die Lage weinrechtlich zum Anbaugebiet Saale-Unstrut gehört, wird der Wein im Landesweingut „Kloster Pforta“ in Bad Kösen gekeltert. Rund 30.000 Weiß- und 30.000 Rotweinflaschen gelangen von dort jedes Jahr auf den Markt.

Versuche, Wein anzubauen auf dem Berg, der etwas abseits gelegen hinter einer Plattenbausiedlung Höhe gewinnt, gab es schon vor achthundert Jahren. Wie so oft waren es Klosterbrüder – in diesem Fall die Zisterzienser –, die mit dem Alkohol aus Trauben experimentierten. Als dann auch noch die Kurfürsten der Hohenzollern, die aus Franken stammten, das Land übernahmen, gab es kein Halten mehr. Wein, Weib und Gesang gehörten von nun an auch im märkischen Sand zur Alltagskultur.

Und der Boom nahm kein Ende. Wein aus Werder war beliebt, weshalb Mitte des 18. Jahrhunderts von 192 Einwohnern dreißig als Weinmeister arbeiteten und sage und schreibe über zweihundert Weinberge mit einer Fläche von rund 100 Hektar bewirtschafteten. Als der Alte Fritz dann von den Werderanern verlangte, lieber Getreide statt Wein anzubauen, ging es mit dem Weinbau kontinuierlich bergab. Dank besserer Verkehrswege kamen die Berliner zunehmend in den Genuss südländischer Weine und rümpften alsbald über die Qualität der regionalen Flaschen nur noch die Nase. Die Werderaner sattelten notgedrungen auf den Obstanbau um.

Und so könnte es bis heute sein, wäre da nicht Mitte der 1990er-Jahre eine Delegation aus der Pfalz nach Werder gekommen und hätte den verwilderten Weinberg entdeckt. „Schämt ihr euch nicht?“, hieß es von den Landwirtschaftsexperten, und das wiederum ließen sich die Werderaner nur ungern sagen. Also stapfte der Obstbauberater Lindicke mit dem Bürgermeister über den Berg, und gesagt, getan, wurde die professionelle Bewirtschaftung des Hügels beschlossen.

Nun sind mit dem Weinanbau sogar Jobs entstanden und ein manierliches Endprodukt dazu. Der Müller-Thurgau jedenfalls hat bei der Weinprobe den Test bestanden, und sollte der 2006er Regent in die Jahre kommen, könnte daraus auch noch was werden.

Vorausgesetzt, es gibt ihn noch: „Die Flaschen sind fast alle“ ist bei Lindickes ein häufig gebrauchter Satz. Viel ist es schließlich nicht, was der sandige Berg hergibt, und lokalpatriotisch sind die Werderaner außerdem. Sie trinken ihren Traubensaft eben am liebsten selber.

Werderaner Wachtelberg, Tel.: (0 33 27) 74 14 10, www.wachtelberg.de, Anfahrt: von Potsdam aus kommend die Potsdamer Straße Richtung Werder, dann links einbiegen in den Wachtelwinkel, am Reichelt vorbei, immer geradeaus vorbei an den Plattenbauten, dann scharf links die Straße steil hoch. Vom Parkplatz aus ca. 200 m Fußweg. Die Straußenwirtschaft „Tiene“ ist geöffnet von Ostern bis Mitte Oktober Fr. ab 15 Uhr, Sa./So. ab 10 Uhr.

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