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Freilaufende Exponate

Auf ins Stipendiatinnenleben: Autorin Gisela Müller zieht auf den Künstlerinnehof Die Höge

Wenn Gisela Müller von ihrem Schreibtisch aufschaut, sieht sie eine alte Steinmauer, einen Platz mit Betonplatten, dahinter einen Schuppen, über dessen flaches Dach einige Äste ragen. Ab und an geht jemand durch den Bildausschnitt – und verschwindet wieder.

Der Künstlerinnenhof „die Höge“ liegt in Bassum bei Bremen: plattes Land. Ein guter Ort für Recherchen, wie sie die Autorin betreibt: Der Blick aus ihrer Stipendiatinnen-Wohnung erinnere sie an das starre Bild einer Webcam. Im vergangenen Jahr hat Gisela Müller sich mit zwei Kolleginnen zu „Worldwatchers“ ernannt. Die Welt aus der Sicht der Webcams. „Wir haben geschaut, notiert. Es gab einen richtigen Dienstplan, sehr beamtisch.“

Die 1967 geborene Schriftstellerin ist eine von zwölf Stipendiatinnen aus sechs Ländern und beinahe allen Kunstsparten, die in diesem Jahr auf der Höge leben und arbeiten. Ihre Texte finden sich auf Internet-Seiten wie schlampe.info oder heimatmuseum.com. Es sind flüchtige, aus der Situation generierte Wortgebilde.

„Die Texte entstehen nicht ‚aus mir heraus‘ sie brauchen Input und folgen einer Komprimierungstechnik – vielleicht den mp3 vergleichbar.“ Nur dass hier nicht der immer gleiche Song decodiert wird. „Wir sind so voll mit Kultur- und Literaturgeschichte, dass beim individuellen ‚Entpacken‘ immer andere Texte entstehen.“

HEIM@TMUSEUM ist eine Sammlung. Eigene Texte, Fragebögen und kleine Exponate, aber auch theoretische Reflexionen füttern den Versuch, „ein Museum für Begriffe von Heimat“ zu schaffen. Das Internet, sagt Gisela Müller, „ist ein guter Ort dafür, weil es eben kein fester Ort ist.“

Fremd- und Vertrautheit von Orten zieht sich als roter Faden durch die Arbeiten der aktuellen resident artists. Die Feldforschung shopping for peace der Texanerin Ana de Portela, die Deutschlandrecherche der Regisseurin Anna Schildt oder Frauke Eckhardts klangliche Spurensuche – sie nehmen den Ort, an den es sie qua Stipendium verschlagen hat, in ihre Projekte auf. So materialisiert sich auch Müllers virtuelles HEIM@TMUSEUM auf der Höge. In einem Bauwagen am Ende des Gartens zeigt sie Texte und Fundstücke. „Hier können auch Besucher Teil der Recherche werden. Sie bekommen ein Schild mit Titel und Beschreibung.“ Wenn man aus dem Fenster des Kurzzeitmuseums schaut, sieht man Apfelbäume – und vielleicht auch eines der „freilaufenden Exponate“. Tim Schomacker

„Open a.i.r.“ – mit Arbeiten der Stipendiatinnen: 16. 05., 14 bis 18 Uhr, Künstlerinnenhof Die Höge, Högenhausen 2, Bassum. Infos: www.hoege.org

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