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„Als hätte ich Millionen gewonnen“

Unsuk Chin

„Deutsche Komponisten wählen Themen, die runterziehen. Der Holocaust ist wie ein Geist, der an allem klebt“„Eine Stadt wie Berlin gibt es nirgendwo auf der Welt. Man hat hier alles. Trotzdem hat sie den Charme eines Dorfes“

Am 31. März wurde Unsuk Chin der begehrteste internationale Kompositionspreis für klassische Neue Musik, der Grawemeyer Award, verliehen. Obwohl die gebürtige Koreanerin seit 1985 in Deutschland und seit 1988 in Berlin lebt, ist diese große Auszeichnung Unsuk Chins nicht auf öffentliches Interesse gestoßen. Das mag daran liegen, dass Neue Musik es schwer hat, sich beim Publikum durchzusetzen. Auch Chins preisgekröntes „Violinkonzert“ gibt es bisher nicht auf CD. Chin, die mit einem finnischen Pianisten verheiratet ist und deren gemeinsamer Sohn dreisprachig aufwächst, sieht es mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge

Interview Waltraud Schwab

Frau Chin, Sie haben die renommierteste Auszeichnung für eine Komposition, den Grawemeyer-Award, gewonnen. Herzlichen Glückwunsch. Die Preissumme war 250.000 Dollar.

Unsuk Chin: Nein, 200.000 Dollar. Mehr wäre auch schön gewesen.

Wie, haben Sie das Geld schon ausgegeben?

Ich habe es noch gar nicht bekommen.

Wie war der Augenblick, als Sie vom Preis erfuhren?

Ich weiß es ja seit Ende letzten Jahres. Es war an so einem ganz miesen Tag. Ich war gestresst, wegen meiner Arbeit, dem Kind, allem. Ich wollte schnell was essen, hab 50 Euro von der Bank abgeholt, bin ins Restaurant. Als ich zahlen wollte, war das Geld nicht da. Ich hatte es im Automat stecken lassen. Ich bin zwar noch mal hin, aber es war natürlich weg. An dem Nachmittag rief meine Verlegerin an und fragte, ob ich sitze oder stehe. Ich solle mich lieber setzen. „Du hast den Grawemeyer gewonnen.“ Ich hab ganz laut geschrien „Nein, das ist nicht wahr.“ Mein Sohn, der auf dem Stuhl neben mir saß, fiel vor Schreck runter.

Niemand in Berlin scheint von Ihrer Auszeichnung Notiz genommen zu haben.

Nicht nur in Berlin. In ganz Deutschland hat kaum jemand darauf reagiert. Für jeden Komponisten ist es ein Traum, den Grawemeyer zu gewinnen. Bisher hat aber noch nie ein Deutscher diesen Preis bekommen. Nur mein Hamburger Lehrer György Ligeti, aber der ist ja gebürtiger Ungar, und jetzt ich.

Woran glauben Sie, liegt es, dass niemand reagiert?

Vielleicht weil ich Ausländerin bin. Obwohl – ich lebe schon fast 20 Jahre in Deutschland.

Der Preis ist so etwas wie der Nobelpreis für klassische Musik …

Stimmt!

und trotzdem kein Blumenstrauß vom Bürgermeister?

Ich habe einen netten Brief vom Berliner Kultursenator Flierl bekommen. Darüber habe ich mich gefreut. Aber sonst kaum Feedback. Ich bin in der deutschen Musikszene ja nicht so präsent. Will es auch nicht sein.

Warum nicht?

Sie ist mir zu lokal und zu deutsch.

Was heißt das?

Deutsche zeitgenössische Komponisten haben meistens nur hier im Land Aufführungen. Im Ausland sind sie oft unbekannt. Schade. Hier gibt es eine so lange, reiche Musiktradition. Beethoven war universell. Aber die Komponisten von heute sind meist lokal und deutsch.

Können Sie das genauer erklären?

Man versteht die Musik nur, wenn man hier aufgewachsen ist. Mit der Erziehung, der Mentalität von hier. Im Ausland funktioniert diese Musik nicht.

Ist sie zu monolithisch, zu starr?

Auch zu schwer. Deutsche Komponisten wählen immer Themen, die so runterziehen. Holocaust muss immer sein. Der ist wie ein Geist, der an allem klebt. Das finde ich auf Dauer überladen und dadurch auch unecht.

Sie leben in Deutschland und suchen sich außerhalb der deutschen Komponistenszene einen Platz. Ist das Absicht?

Eher Folge eines Schocks. Als ich nach Europa kam, hatte ich Stücke komponiert im Stil der Darmstädter Avantgarde: Streng, seriell, kompliziert. Damals war ich jung und dachte, neue Musik müsse so sein. Dann kam ich nach Deutschland und habe Ligeti die Arbeiten gezeigt. Der hat tierisch auf mich geschimpft und gesagt, ich soll alles wegschmeißen. Was ich ihm gezeigt habe, das mache jeder. Ich soll meine eigene Musik machen. Ich habe wirklich drei Jahre lang eine Krise durchgemacht, konnte gar nicht komponieren. Danach habe ich allmählich wieder Fuß gefasst.

Als Außenseiterin.

Wer zur deutschen Musikszene gehören will, der muss immer bei solchen Musikfestivals auftreten. In Donaueschingen, Witten, Darmstadt. Man muss drin sein in der Szene. Für mich ist das wie Gruppenzwang. Gott sei Dank habe ich dann mehr Chancen bekommen in London und Paris. Hier hatte ich 14 Jahre lang kein Konzert für Orchester gehabt, nur elektroakustische Musik, also Tape-Musik, obwohl ich hier lebe. Aber das fand ich eigentlich gar nicht schlecht.

Warum?

Ich lebe hier in Berlin und habe meine Ruhe. Aufführungen habe ich woanders. Das gefällt mir.

Was hat Sie nach Deutschland gebracht?

Ich habe zuerst in Seoul studiert. Für uns Musiker in Korea ist das aber immer noch normal, dass man nach Amerika geht, nach Deutschland oder Frankreich, um weiter zu studieren. In Hamburg habe ich Ligeti, einen sehr berühmten Komponisten gefunden, der mich als Schülerin akzeptierte. Das war wirklich eine große Chance. Parallel habe ich ein Stipendium bekommen. Meine Familie wäre nicht in der Lage gewesen, mich zu unterstützen

Wie ist ihr familiärer Hintergrund?

Mein Vater war evangelischer Pfarrer in Korea. Er starb als ich 16 war. Meine Mutter ist Hausfrau.

Evangelischer Pfarrer in Korea?

Korea ist stark christianisiert. Es gibt so viele Kirchen dort. Ich kenne nur Christen da. Ich finde das ein bisschen komisch. Gut, es gibt auch Buddhismus. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist christlich, ein Drittel buddhistisch, der Rest was anderes oder gar nichts.

Hatten Sie durch die christliche Religion Kontakt mit europäischer Musik?

Nicht wirklich. Das koreanische Christentum ist stark amerikanisch beeinflusst. Hinzu kommt, dass es in Korea schon immer schamanistische Traditionen gab. Daraus haben sich die Leute eine merkwürdige, eigene Mischung gebastelt.

Ihre Musik ist auch eine eigenwillige Mischung aus vielen Richtungen – ist das die logische Fortsetzung ihrer musikalischen Erfahrungen in Korea?

Die christlichen Gebräuche – beten, in die Kirche gehen, singen –, das musste ich jahrelang machen, aber das war nicht mein Ding. Natürlich habe ich in der Kirche die Choräle trotzdem begleitet und gesungen und so eine Ahnung von westlicher Musik bekommen. Im Alltag hörte ich damals aber sehr viel koreanische Musik, schamanistische Musik. Für andere Leute ist das eine getrennte Welt. Für mich war das normal. Ich habe auch sehr viel Pop gehört als Teenager und europäische Klassik.

Keine schlechte Voraussetzung, um den Grawemeyer Preis zu bekommen. Er wird für Kompositionen vergeben, die einer breiten Zuhörerschaft zugänglich sein soll. Wobei fraglich ist, ob „Neue Musik“ und Breitentauglichkeit sich nicht ausschließen.

Ja, irgendwie schon. Als mir der Preis in Amerika überreicht wurde, erklärte man mir die Auswahlprozedur. Ein erstes Komitee wählt aus den eingereichten Werken, meist so 200 Stücke, etwa 15 Stücke aus. Im zweiten Verfahren, wählen ein Dirigent, ein Komponist und ein Musiker von diesen eine Handvoll Stücke aus. Danach werden diese ausgewählten Arbeiten weitergegeben an ganz „normale Hörer“ von Neuer Musik. Keine Musikprofis, aber professionelle Hörer. Wahrscheinlich sind sie die besten Kritiker überhaupt. Über mehrere Monate hören sie dann die Stücke. Sei es im Auto, beim Kochen, im Schlafzimmer oder auch mit voller Konzentration. Sie wählen am Ende das Siegerstück. Ich finde das eine sehr faire Vorgehensweise.

Womit glauben Sie, ist es Ihnen gelungen, die „normalen Hörer“ anzusprechen?

Ich versuche immer mit harmonischen Strukturen Musik zu schreiben. Harmonie ist etwas, was jeder versteht. Wenn ein Stück Harmonie als Basis hat, kann trotzdem ganz viel passieren.

Ist die koreanische Vorstellung von Harmonie die gleiche wie die europäische?

In unserer traditionellen Musik gibt es keinen Begriff für Harmonie. Da gibt es Homophonie, mehrere Linien, die zusammenlaufen. Aber weil ich schon als Kind Kontakt hatte zur europäischen Klassik, ist das für mich untrennbar.

Vielleicht ist das das Geheimnis Ihrer Komposition, die meines Erachtens selbst für eingefleischte Neue-Musik-Hasser ein Aha-Erlebnis ist.

Wenn ich komponiere, versuche ich, den Leuten etwas zu vermitteln. Farben etwa. Farben sind für meine Musik sehr wichtig. Und Wärme und Freude. Das ist in der Neuen Musik sehr selten der Fall. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum eigentlich. Die gängige Neue Musik ist eben nicht so. Aber ich wollte was anderes machen. Farbe, Wärme, Freude – viele Kollegen werden darüber lachen, wenn ich so etwas sage.

Warum?

Weil sie es naiv finden. Zu wenig intellektuell. Aber meine Musik ist trotzdem abstrakt und nicht romantisch. Oder finden Sie das romantisch?

Mir sind die schnelle Wechsel vom Versöhnlichen zum Extremen, vom Schnellen zum Langsamen, von dem, was bekannt erscheint hin zu Musik, die keinen Gleichklang mehr kennt, vom Hohen zum Tiefen, vom Emotionalen zum Fremden aufgefallen.

Das Stück ist für Geige. Man kann kein Violinenstück schreiben, ohne die Emotion, die dieses Instrument einfach so erzeugt, anzusprechen. Wenn ich Gefühle ausdrücken möchte, versuche ich dennoch, viel Distanz dazu zu halten.

Spiegelt sich in dieser Verbindung von Gefühl und Distanz auch eine Mischung aus Asiatischem und Europäischem, die Sie verkörpern?

Ich denke nicht darüber nach. Aber wenn man als Grenzgängerin zwischen Europa und Asien pendelt, wird man zwangsläufig zu etwas, was weder dort noch hier existiert.

Etwa eine Berliner Koreanerin, die hin und wieder Currywurst isst?

Oh Gott, nein. Wenn es ums Essen geht, gilt für mich nur koreanisch. Aber ich bin sehr froh, dass ich in Berlin lebe. Es ist wirklich eine besondere Stadt.

Warum?

Ich war ja schon vor der Wende hier. Ich dachte, das ist grotesk hier. Es gab so viel Spannung in der Luft damals. Wenn man aber länger als zehn Jahre in Berlin gelebt hat, lernt man das zu schätzen. So eine Stadt gibt es nirgendwo auf der Welt. Eine Großstadt mit unglaublich vielen kulturellen Angeboten. Man hat hier alles. Trotzdem hat die Stadt den Charme eines Dorfes. Wenn man nach New York geht, Tokio oder Seoul, das ist alles grauenhaft dagegen. Ich könnte dort nicht leben. Zu hektisch, zu schnell, zu grell.

Wollten Sie in Deutschland bleiben?

Ja. Weil ich mir hier mein Leben selbst gestalten durfte. In Korea hatte ich das damals noch nicht. Erst hier hatte ich meine eigene Wohnung, habe meine eigene Existenz aufgebaut. Egal in welchem Land man wohnt, wenn einem das gelungen ist, dann ist das halt die Heimat.

Wird der Preis Ihr Leben leichter machen?

Wirtschaftlich schon. Vom Komponieren zu leben ist sehr sehr hart. Neue Musik verkauft sich doch nicht. Wenn man durch den Preis so ein bisschen finanziellen Spielraum hat, dann ist das sehr gut. Für mich ist es, als hätte ich mehrere Millionen gewonnen.

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