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Der Kinobesuch als Klassenfrage

In Indien boomen die Multiplexe. Das bietet jüngeren Produzenten und Nachwuchsregisseuren neue Möglichkeiten, bedroht aber die großen, traditionsreichen Kinos, die so genannten Stand-alones – und damit auch das Produktionssystem Bollywood

Die Stand-alones sind abgewrackt und müssen renoviert werdenSogar Bettler konnten sich für zehn oder fünfzehn Rupien Kinokarten kaufen

VON DOROTHEE WENNER

„Ich bin fast vom Stuhl gefallen, als ich hörte, dass ‚Main hoon na‘ auf Platz zwei der US-Kino-Charts steht“, sagte die Regisseurin Farah Khan in einem Interview der India Times. Ihr Film – eine umwerfende Kombination aus College-Romanze und Action-Thriller – sorgte in der indischen Kinobranche für erleichtertes Aufatmen. Die glänzenden Einspielergebnisse daheim und overseas haben es geschafft, die düsteren Schlagzeilen aus Bollywood erst einmal wieder zu verdrängen.

Mit der Premiere von „Main hoon na“ endete nämlich auch der 17-tägige Streik der so genannten stand-alones, der Riesenkinos mit 1.000 und mehr Sitzplätzen, im Bundesstaat Maharashtra. Den Besitzern steht das Wasser bis zum Hals: Sie mussten für „Main hoon na“ wieder öffnen. Hätten sie diese Premiere der Konkurrenz – den Multiplexen – überlassen, wäre das für viele der alten Kinos das endgültige Aus gewesen. So endete der Streik vorzeitig, mit gewaltigen Umsatzverlusten und einigen kosmetischen Zugeständnissen, obwohl der eigentliche Konflikt weitergärt. Pessimisten unken gar, dass die Geschichte den Anfang vom Ende der größten Filmindustrie der Welt eingeläutet hat.

Dabei hatte alles so schön begonnen. Als vor gut drei Jahren die ersten Multiplexe in Indiens Großstädten eröffneten, waren vor allem die jüngeren Produzenten und Nachwuchsregisseure in Aufbruchstimmung. Endlich würde es in Indien Kinos geben, die Nischenfilme und unabhängige Produktionen zeigen würden! Und tatsächlich erlebt das so genannte parallel cinema, das in den letzten Jahren nur auf Festivals präsent war, derzeit eine regelrechte Blüte. Die Kombination von preiswerteren Produktionsmöglichkeiten und neuen Abspielstätten mit kleineren Kinos hat seit einigen Monaten eine Vielzahl von Autorenfilmen hervorgebracht, die die riesige Kluft zwischen Großproduktionen und dem unabhängigen Kino scheinbar erfolgreich geschlossen hat. „Maqbool“, eine Macbeth-Adaption von Vishal Bhardwaj, gilt in dieser neuen Kategorie des indischen Kinos als Prototyp. Der Film hatte recht gute Einspielergebnisse, obwohl er ohne Top-Stars gedreht wurde, dabei aber sehr subtil das Milieu der Unterwelt von Bombay darstellt und die obligatorischen „Song & Dance“-Szenen geschickt in die Geschichte integriert.

„Maqbool“ ist zweifellos ein Film, der vom Multiplex-Boom profitiert hat: Die Zielgruppe ist das urbane Mittelklasse-Publikum, das sich hin und wieder ausländische Filme ansieht. Vor allem aber sind es Zuschauer, die – seit es Multiplexe gibt – nicht mehr in die alten Kinos ohne Klimaanlage, mit zerschlissenen Sesseln, eingerissenen Leinwänden, veraltetem Soundsystem und stinkenden Toiletten gehen.

Und hier beginnt das Problem: Neuerdings ist der Kinobesuch in Indien zu einer folgenreichen „Klassenfrage“ geworden. Die indirekte staatliche Subventionierung von Multiplexen kommt dem solventen Publikum der Metropolen zugute, während das traditionelle Kino als Unterhaltung für die Massen in absehbarer Zeit keine bezahlbaren Abspielstätten mehr vorfinden könnte. Die meisten der etwa 12.000 indischen Kinos sind riesige stand-alones – in fast ausnahmslos abgewracktem Zustand und dringend renovierungsbedürftig. Doch können sich die wenigsten Kinobetreiber eine Generalüberholung ihrer Theater, geschweige denn den Einbau einer Klimaanlage leisten, obwohl in Indien täglich zehn Millionen Eintrittskarten verkauft werden. Von dem Geld bleibt einfach nicht genug übrig, da der indische Staat an der Kinosucht seiner Bevölkerung üppig verdient. Die einzelnen Bundesstaaten kassieren unterschiedlich viel Vergnügungssteuer – in den Siebzigerjahren ging Maharashtra (Hauptstadt: Bombay) mit 110 Prozent Steuer pro Karte am weitesten. Im Klartext bedeutet das: Mehr als das Doppelte der tatsächlichen Kosten für Produktion, Vertrieb, Abspiel usw. zahlte damals der Kinobesucher an den Staat.

Dieses Geld fließt jedoch nicht – wie beispielsweise in Deutschland oder Frankreich – größtenteils zurück in die Förderung der Filmindustrie. Im Gegenteil: Das Besteuerungssystem der gesamten indischen Filmproduktion ist so gestaltet, dass man eigentlich nur darüber staunen kann, wie Jahr für Jahr 800 bis 900 Filme auf den Markt kommen – mehr als in den USA. Das könnte sich bald ändern. Denn die indischen Kinobetreiber haben nun als Erste zu spüren bekommen, wie desaströs sich eine ignorante Filmpolitik auswirken kann. Zwar zahlen die Kinobetreiber in Maharashtra seit dem Streikende „nur“ noch 45 Prozent Vergnügungssteuer, mithin 10 Prozentpunkte weniger als zuvor. Doch diese finanzielle Entlastung ist für die traditionellen Filmtheater nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

„Im Unterschied zu den europäischen Filmländern braucht es bei uns nicht den übermächtigen Feind aus Amerika, der unsere Industrie zerstört. Wir sind auf dem besten Wege, das ganz allein zu erledigen“, schimpft Viveck Vaswani stellvertretend für Bombays alteingesessene Kinobetreiber. Und er meint damit in erster Linie die kurzsichtige Förderung von Multiplex-Kinos seitens der Regierung. Das Modell dazu haben findige Investoren aus der Baubranche entwickelt – in einer Marktlücke, deren Ursprung in einem veralten Gesetz aus dem Jahr 1962 zu finden ist.

Dieses Gesetz verbietet den Besitzern von stand-alones, ihre Kinos abzureißen, wenn sie nicht ein neues Kino in gleicher Größe am selben Ort wieder aufbauen. Ohne dieses Gesetz hätten in Indien die meisten stand-alones längst und für immer geschlossen, denn die hohen Steuersätze und die rückläufigen Zuschauerzahlen haben dazu geführt, dass kaum ein Kino mehr profitabel arbeitet. Zudem sind viele Kinos in den boomenden Großstädten auf Grundstücken gebaut, mit denen sich im Handumdrehen ein Vermögen verdienen ließe, doch das Gesetz verbietet jede Umnutzung. So stehen einige der alten Prachtbauten, deren Betrieb nur noch Schulden einbrachte, inzwischen leer. Andere Kinos waren dazu gezwungen, sich durch Abspiel von C-Pictures mit erotischen Einsprengseln gewissermaßen zu inoffiziellen Bordellen umzufunktionieren, um überleben zu können.

Diese extrem schwierige Situation nutzten clevere Investoren, die alten Kinos als Auslaufmodelle zu deklarieren, als Dinosaurier eines Zeitalters der Unterhaltungsindustrie, die keine Zukunft haben. Sie setzen stattdessen auf den Neubau von Multiplexen, die sie mit politischer Rückendeckung als Steuerabschreibungsmodelle konzipiert haben, was ihnen selbstredend einen uneinholbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber den stand-alones verschafft. In Bombay beispielsweise bezahlen Multiplexbetreiber in den ersten vier Jahren nach der Eröffnung gar keine Vergnügungssteuer. Zudem haben sich die Herren aus der Baubranche das Recht ausgehandelt, die Multiplexe nach zehn Jahren anderweitig nutzen zu dürfen. Da die neuen Kinos vorzugsweise auf Filetgrundstücken erbaut werden – mit viel architektonischer Aufmerksamkeit für die Restaurants und Shopping-Malls drumherum –, dürfte die Option eines späteren Ausstiegs manchem Bauherren mit Gespür für Standorte den Einstieg ins Kinogeschäft noch verlockender gemacht haben. Die Anzahl der Bewerbungen spricht für sich: In den nächsten fünf Jahren sollen im Land etwa 1.000 neue Multiplexe gebaut werden. „Das Hauptproblem dieses Booms ist, dass weder die Investoren noch die dafür verantwortlichen Politiker eine Vision für die Zukunft unserer Filmindustrie entwickelt haben – es sind Geschäftsleute ohne jede Kinoleidenschaft“, so Vaswani.

Bislang funktionierte die indische Filmwirtschaft, weil sich auch Schlechtverdienende – sogar Bettler – für 10, 15 oder 20 Rupien Kinokarten kaufen konnten. Genau diese Leute aber gehören nicht zum Zielpublikum der Multiplexe: Dort kostet der Eintritt bis zu 150 Rupien (knapp 3 Euro). Damit wird Kino – bislang die liebste Freizeitgestaltung der Inder – zu einem Vergnügen, das sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr leisten kann, jedenfalls dann nicht, wenn es die stand-alones eines Tages nicht mehr gibt. Kaum verwunderlich, dass sich unter diesen Umständen das Fernsehen auch in Indien allmählich zu einer alternativen Unterhaltungsform entwickelt. Auch die US-amerikanischen Majors, die bislang nur einen Marktanteil von 4 Prozent haben, beobachten die rasanten Veränderungen der indischen Unterhaltungsindustrie mit größtem Interesse. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie sich diese Situation mittelfristig auf die indischen Filme, auf ihre Inhalte und Erzählweisen auswirken wird.

In Bollywood hat sich über Jahrzehnte eine besondere Filmsprache entwickelt, die sich immer an das indische Massenpublikum gewandt und meisterlich die Bedürfnisse von mehrheitlich illiteraten Menschen befriedigt hat. Für die nächste Runde im Kampf um ihr Überleben setzten die Betreiber der stand-alones deswegen auf eine Allianz mit den mächtigen Bollywood-Produzenten. Ihr Sprecher ist Nestor D’Souza, Vorsitzender der Assoziation indischer Kinobetreiber (CEAI): „Wir haben bei den Produzenten angeklopft und sie gebeten, ihre schicken Büros zu nutzen, als glamour boys der Industrie, um die Regierung einsichtiger zu machen. Schließlich braucht jeder Film, wenn er ein Erfolg sein will, ein Publikum. Warum sollte man auch einen Film herausbringen, wenn ihn am Ende kaum jemand mehr sieht?“

Das nächste Inox-Multiplex in Bombay soll im Juni eröffnet werden: acht Leinwände, in allerfeinster Citylage, in unmittelbarer Nähe zu den drei schönsten Art-déco-Kinos der Stadt. Die fürchten um ihr Überleben.

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