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Zum Sonnenuntergang nach Wolin

taz-Serie „Polen in einem Tag“ (Teil 11 und Schluss): In Międzyzdroje auf der Insel Wolin findet man trotz Nobelhotels und restaurierten Stadtvillen noch immer eine andere Ostsee als nebenan – in Ahlbeck oder Heringsdorf auf Usedom

Wenn es um Vineta geht, hat Wolin die Nase vorn. Schon im Jahr 1871 stellte der Berliner Arzt und Forscher Rudolf Virchow fest, dass das sagenumwobene Vineta, die wohlhabende, vom Meer verschlungene Stadt, in der einmal 10.000 Menschen gelebt haben sollen, auf der Ostseeinsel lag. Virchow wörtlich: „Vineta ist Wollin.“

Auch als Wolin schon polnisch war, wurde Virchows These weiterverfolgt. Nach jahrelangen Grabungen legte der Stettiner Archäologe Władisław Filipowiak mehrere Stadtviertel und vier Häfen frei. Die Vertreter der konkurrierenden Usedom-Theorie konnten nur mit Volksweisheiten und dem „Vineta-Riff“ vor Koserow dagegenhalten.

Heute ist Wolin, die Stadt, die der Halbinsel ihren Namen gab, keine reiche Stadt mehr. Reich ist dagegen das nur 10 Kilometer entfernt an der Ostsee gelegene Międzyzdroje. „Das polnische Nizza“ sagen manche, andere verweisen darauf, dass es hier einmal die längste Seebrücke des deutschen Kaiserreichs gab. MięĽdzyzdroje/Misdroy war schon immer ein Ort der Superlative.

Das gilt auch für die Anfahrt. Wer nach Międzyzdroje will, kommt um dieses Thema nicht herum. Vor allem, wenn er gedacht haben sollte, Stettin liege an der Ostsee und ins polnische Nizza sei es nur ein Katzensprung. Weit gefehlt. Zwei Stunden braucht der Zug noch einmal von Szczecin/Stettin über Wolin/Wollin und Międzyzdroje/Misdroy nach Świnoujście/Swinemünde. Dass der Ort dennoch in der Serie „Polen in einem Tag“ gut aufgehoben ist, liegt auch am Sonderzug „Der Wolliner“, den die Bahn ab Juni anbietet. Die Fahrt an Polens Ostseeküste ist dann auch für das „Schöne Wochenendticket“ zu haben.

Es ist eine Fahrt an eine andere Ostsee als die, die man vom benachbarten Usedom oder von Rügen kennt. Natürlich, mit dem Hotel „Amber Baltic“ gibt es auch in Międzyzdroje ein Nobelhotel, und viele der ehemals stolzen Stadtvillen im Stile der Bäderarchitektur sind inzwischen wieder hergerichtet. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass es selbst im Zentrum des Städtchens nach Bratwurst und Budenzauber riecht. Bier wird hier auf robusten Holzbänken getrunken, und den geräucherten Lachs gibt es mit dicken Brotscheiben auf Papptellern.

Vielleicht ist es gerade diese Atmosphäre, die viele Deutsche inzwischen anzieht und Międzyzdroje zu einem der beliebtesten Urlaubsziele an der polnischen Ostseeküste macht. Vielleicht sind es aber auch die Preise: Außerhalb der Hochsaison und mit etwas Glück kann man hier immer noch Unterkünfte für zehn Euro pro Person bekommen. Das ist dann tatsächlich eine Alternative zu Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin.

Ist also heute, frei nach Virchow, Międzyzdroje Wolin? Ganz und gar nicht. Als Insel hat Wolin weitaus mehr zu bieten als Bratwurstduft und weite Sandstrände. Gleich hinter dem Ort beginnt an der Steilküste der 1960 gegründete Nationalpark Wolin. Im dortigen Wildreservat kann man noch heute „Żubry“ bestaunen, Wisente also, die hier einmal heimisch waren.

Der Superlativ freilich, der ist heute vor allem in Międzyzdroje zu Hause. Bald nämlich soll die Seebrücke des Städtchens wieder auf jene 396 Meter Länge aufgestockt werden, die sie zu Kaisers Zeiten einmal hatte. Zu jenen Zeiten also, in denen die Berliner, wie es im Volksmund hieß, zum Sonnenuntergang nach Misdroy kamen – natürlich auch der Kaiser selbst.

Damals war Misdroy über die Schiene nicht nur in den Sommermonaten zügig zu erreichen. Bis es wieder ähnlich komfortable Bahnverbindungen geben wird, dauert es wohl noch eine ganze Weile. Aber vielleicht ist das auch gut so. Vieleicht würde es ja sonst statt Bratwurstbuden auch auf Wolin nur Fischrestaurants geben, in denen der Fisch zwar teurer ist, dafür aber auch garantiert geschmackloser.

UWE RADA

Die Deutsche Bahn fährt mit dem „Wolliner“ vom 26. Juni bis 29. August von Belzig über Potsdam und Berlin nach Międzyzdroje. Abfahrt ab Alexanderplatz 5.59 Uhr, die Fahrt dauert vier Stunden. Die Rückfahrt startet in Międzyzdroje um 16.38 Uhr

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