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Vierzig Wörter für das Leid

Crime Scene: Giles Blunt schildert in „Gefrorene Seelen“ eine Atmosphäre eisiger Kälte, in der Minderjährige sterben. Besser noch wäre es, würden Apple-Manager sterben

Lähmend legt sich bei Giles Blunt der Winter über alles, was sich noch regen kann

„Ich will nicht drei Leichen bis Seite 200, und dann nur ein paar mehr oder weniger schwer erziehbare Jugendliche. Ich will 200 tote Manager, am besten auf Seite 3, Apple-Manager!“ Fehler 41, eine „Uhrzeitsynchronisierung“ hinderte meinen iMac, auch Master genannt, am Booten. Noch während des Startvorgangs fror alles ein. Eingefroren – wie viel Ironie kann das Schicksal bereithalten, und wann ist es erlaubt, zu kapitulieren? Eine Frage, die sich zurzeit täglich stellt. Zumal der ehedem 1.800 Euro teure und nie einwandfrei arbeitende „Convenience“-Computer gerade einfriert, während man verzweifelt versucht, eine Kritik über „Gefrorene Seelen“ von Giles Blunt loszuwerden. Selbst dessen Originaltitel „Forty Words for Sorrow“ kann mein Blut zum Gefrieren bringen …

„Von den Inuit heißt es, sie hätten vierzig verschiedene Wörter für Schnee. Nichts gegen Schnee, dachte Cardinal, aber was die Menschen wirklich brauchten, sind vierzig Wörter für Kummer, Schmerz, Leid, Gram. Es gab nicht genug Wörter, nicht für diese kinderlose Mutter in ihrem leeren Haus.“

Auch Detective John Cardinal gehört nicht zu den Glückskindern. Seine Frau leidet an Depressionen, für das Kunststudium der Tochter kam nur die ferne wie teure Eliteuniversität Yale in Frage, und sein Haus ist ein einsamer, schwer zu beheizender Ort in der Provinz Kanadas. Zudem wird der ernsthafte, stets korrekt wirkende Detective von den Dämonen vergangener Zeiten gejagt. Nicht alles an ihm scheint so gradlinig, aufrecht und einwandfrei wie seine Motivation, den alten Fall um zwei oder drei vermisste Minderjährige neu aufzunehmen. Damals hatte ihm der Chef Verschwendung vorgeworfen, um ihn schließlich zu den Eigentumsdelikten abzuschieben. Nun steht eine Kollegin vor seinem Garagentor, die eigentlich in der Abteilung für Sonderermittlung die eigenen Leute kontrolliert oder auch ausspioniert. Cardinal soll wieder im selben Fall ermitteln, und dabei steht ihm Lise Delorme als neue Partnerin zur Seite oder auch im Rücken.

Die erste Leiche wird in einem Minenschacht gefunden. Verstümmelt mit fehlenden Gliedmaßen, in einem Eisblock eingeschlossen, stellt sie das frische Ermittlungsteam bereits bei der Spurensicherung vor Probleme. Letztendlich wird sie als Block herausgesägt und mit einem Industrietransporter für Stickstoff ins entfernte Toronto gebracht. Ein Lebensmitteltransporter verbot sich aus hygienischen Gründen. Die zweite liegt mit einem Kissenbezug über dem Kopf im Kohlenkeller eines leer stehenden Hauses, um das sich die Erben des Vorbesitzers streiten.

Es sind diese kleinen Details, die den dunklen 430-seitigen Roman vorantreiben. Wenn Blunt die Behausungen im nahen Reservat der Indianer beschreibt oder das Hautbild einer Hauptfigur, reichen ihm wenige Worte, um eine allgemeinere Kälte heraufzubeschwören. Lähmend legt sich der Winter über alles, was sich noch regen kann. Im Schnee und Eis lauert dumpf die Gewalt. Gefühle verkehren sich ins Gegenteil und sterben. Menschen leben in einer selbst gemachten Isolation, trotz der Betriebsamkeit herrscht im Revier muffige Einsamkeit.

Cardinals Verhältnis zu seiner Partnerin Delorme bleibt bis zum Ende distanziert, nahezu rätselhaft. Und die kleine Provinzstadt Algonquin Bay wirkt trotz ihrer zentralen Verkehrsanbindung konturlos wie ein Ort ewiger Durchreise. Der 1952 in Ontario geborenen Kanadier Giles Blunt lebt seit den Achtzigerjahren in New York und arbeitete, bevor er zum Schriftsteller und Drehbuchautor avancierte, als Streetworker, Gerichtsdiener und Barkeeper. Mit „Gefrorene Seelen“ ist ihm die stillste Version eines „echten Pageturner“ gelungen – von der britischen Crime Writers’ Association mit dem Silver Dagger ausgezeichnet.

Zum versöhnlichen Schluss und als Antwort auf die tausenden von Zuschriften: Der in der letzten Kolumne illegal vorab gepriesene Roman „Spiel unter Freunden“ von P.J. Tracy darf jetzt nicht nur zitiert, sondern auch rezensiert werden, was hiermit geschehen soll – toll! Bei P.J. Tracy handelt es sich übrigens um das Pseudonym eines Autorenduos aus Mutter und Tochter, die mit ihrem kauzigen Debüt um einen mörderischen Online-Gamer auch unter Kollegen für Furore gesorgt haben. Tote Apple-Manager finden sich hier zwar auch nicht; aber immerhin dienen Computer schon mal als ein Schlüssel zum Unglück.

LARS BRINKMANN

Giles Blunt: „Gefrorene Seelen“. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Tiffert. Droemersche Verlagsgesellschaft, München. 430 Seiten, ca. 25 €ĽP.J. Tracy: Spiel unter Freunden. Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner. Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek. 390 Seiten, 12 €

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