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Über die Meere hinweg

Im päpstlichen Sonderschreiben „Ecclesia in Europa“ mischt sich selbstgewisser Doktrinarismus mit Ideen von Öffnung und Solidarität, wie sie viele Linke kaum besser formulieren könnten. Fragt sich nur, ob solche Wertschöpfungen gebraucht werden

Die päpstlichen Beschwörungen verfehlen Denken und Fühlen des Publikums

von CHRISTIAN SEMLER

Früher, zur Zeit der Blockteilung Europas, war im Westen des Kontinents die Frage nach der „Identität Europas“ bloßer Zierrat. Die Europäische Union galt als Selbstläufer. Ihre Rechtfertigung bestand ökonomisch in den Vorteilen des erweiterten gemeinsamen Marktes, der Verkehrsfreiheit für Güter, Kapital und Arbeitskräfte. Politisch fungierte sie zuerst als Instrument der Eindämmung gegenüber dem östlichen Realsozialismus, später, nach Abschluss der Helsinki-Verträge 1975, wurde sie als rechtsstaatlich verfasster, demokratischer und prosperierender Wirtschaftsraum zum Magneten für die retardierenden Gesellschaften im Hegemonialbereich der Sowjetunion.

Für die östliche Hälfte Europas, zumal für deren Intelligenzija-Schichten, stellte sich die Frage der „Identität Europas“ gänzlich anders dar. „Aut Europa, aut nihil!“, benannte der polnische politische Philosoph Marcin Krol einen Aufsatz aus den späten Achtzigerjahren, in dem er Europa als kulturellen Zusammenhang darstellte, der auf einem historisch gewachsenen christlich-liberal-demokratisch-sozialen Wertekanon basierte. Im Zentrum dieses Kanons standen Freiheit und Würde der Person – als Abgenzung zur realsozialistischen Ideologie und deren kollektivistischer Ausrichtung.

Auch der spätere Papst Karol Wojtyla, damals Erzbischof von Krakau, war Anhänger einer Philosophie, in der Europa als Wahrerin der Menschenrechte fungierte. Bei weitem keine Selbstverständlichkeit, wenn man die traditionelle Nähe der europäischen wie der polnischen katholischen Kirche sowie der Päpste zu den konservativen Machteliten bedenkt. Polens Kirche hielt anfänglich selbst unter der Herrschaft der Realsozialisten Distanz zur Konzeption der Menschenrechte. Nicht zuletzt unter Wojtylas Einfluss nahm sie sich der polnischen Menschenrechtsaktivisten ohne Rücksicht auf deren Glaubensbekenntnis an.

Wojtylas Denken folgte den Spuren der personalistischen Schule Jacques Maritains, der die Idee der christlichen begründeten Einmaligkeit jedes Individuums mit der Forderung nach Solidarität, insbesondere der Solidarität der arbeitenden Menschen, verband. Daraus folgte eine doppelte Frontstellung: gegen den Marxismus, der das Individuum aus dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse erklärt, und gegen den Liberalismus, der das isolierte Individuum und sein Glücksstreben zum alleinigen Bezugspunkt macht. War es im Osten der Parteistaat, der die Individuen samt ihren sozialen Beziehungen und Bindungen unterdrückte, so war es im Westen der entfesselte Markt, der sie zersörte. In beiden Systemen sah Wojtyla die Menschen in Gefahr, ihr Bedürfnis nach Transzendenz zu verlieren, damit aber auch die Basis ihrer Individualität, die nach seiner Auffassung in Christus gründete. In dieser Haltung unterschied sich Wojtyla von der ersten Europawerteeuphorie der meisten osteuropäischen Demokraten.

War Wojtyla zu Beginn der Neunzigerjahre aber noch voller Hoffnung für die Wertebasis eines wieder geeinten, demokratisch verfassten Europas, so verdüsterte sich ihm der Horizont zusehends im Verlauf des folgenden Jahrzehnts. In dem Maße, in dem die kommunistische Drohung schwand, verstärkte sich die konsumistische. Schon in der ersten Bischofssynode zu Europa von 1991 wurde die Klage über den zunehmenden Egotrip der Europäer laut. Ende 1999 fand die zweite Sondersynode zu Europa statt, der der Papst jetzt, das heißt am 28. Juni 2003, ein synodales Sendschreiben unter dem Titel „Ecclesia in Europa“ nachschickte. In ihm bündeln sich die päpstlichen Besorgnisse wie die Mittel zur Remedur der europäischen Glaubenskrankheit.

In dem apostolischen Schreiben findet sich die für den gegenwärtigen Papst typische Mischung aus selbstgewissem, von jedem Argument unangefochtenem Doktrinarismus und aus Einsichten in politische und ökonomischen Prozesse, die sich oft genug mit Grundpositionen der Linken treffen.

Für ihn stellen sich die Glaubensinhalte des Katholizismus schlicht als Wahrheiten dar. Man muss nur in sein Gewissen horchen, und schon sprechen sie zu einem – schließlich sind sie uns ins Herz geschrieben. Trotz vielfachen Bekenntnisses zur Ökumene duldet der Papst auch nicht die geringste Relativierung der katholischen Kirche als einzig berufener Mittler zu Gott. Er ist durchdrungen von der Vorstellung, Christus lebe in seiner Kirche. Dem gegenwärtigen Christus wenden sich die Kirche und alle Gläubigen zu, jeder an seinem vorbestimmten Platz. Institutionen reformieren? Eine absurde Frage angesichts der permanenten Anwesenheit Gottes in der Kirche.

Von der Verteidigung des Zölibats über ein patriarchales Frauen- und Familienverständnis bis zur gänzlich unhinterfragten Forderung nach Mission will der Papst die Kirche als eine Art organisierte spirituelle Gegenkraft verstanden wissen, die Europa aus Zweifel und Ratlosigkeit auf sein traditionnelles Wertefundament zurückführt – und das ist allemal „entscheidend“ christlich geprägt. Aber in Kapitel VI seines Sendschreibens, das konkreten Maßnahmen des Weges aus der europäischen „Wertekrise“ gewidmet ist, greift er doch über diese konservativen Formen der Selbstvergewisserung hinaus. Er bestimmt Europa nicht aus sich selbst heraus. „Wenn man ‚Europa‘ sagt, soll das ‚Öffnung‘ heißen.“ Und weiter: „Europa darf sich nicht in sich selbst zurückziehen. Es muss ein offener und gastfreundlicher Kontinent sein.“ Diese päpstlichen Überlegungen haben eine eindeutige Stoßrichtung gegen die „Festung Europa“. Sie schließen die Forderung nach einem großzügigen Einwanderungsrecht ein. Der Papst resümiert, dass „Europa über die Meere hinweg auf andere Völker, andere Kulturen, andere Zivilisationen zugegangen ist“. In Lyrismen dieser Art nur eine verspätete Rechtfertigung des europäischen Imperialismus sehen zu wollen, griffe zu kurz. Die Kritik an der expansiven europäischen Ideologie seit den Tagen der Kreuzzüge ist auch am Papst nicht vorbeigegangen. Vielmehr geht es hier um die Einsicht in den eigenen Mangel.

Man muss nur in sein Gewissen horchen, schon sprechen die Wahrheiten zu einem

Die internationale Zusammenarbeit muss, dem Sendschreiben nach, neu überdacht werden, und zwar „im Sinn einer neuen Kultur der Solidarität“. Weder der nationale noch der Weltmarkt bringt sozial akzeptable Ergebnisse hervor. Im Anschluss statuiert der Papst im Sendschreiben: „Der Markt verlangt, dass er von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der gesamten Gesellschaft zu gewährleisten.“ Das hätte die „soziale Kraft“ Attac nicht besser sagen können.

Johannes Paul II. scheut sich nicht, die katholische Kirche in ihrer jetzigen Gestalt als Modell für ein offenes Europa zu preisen. Gott sei Dank erschöpft sich dieses Angebot nur in allgemeinen Erörterungen über die Einheit in der Verschiedenheit. Konkret werdend, fällt das Angebot des Papstes bescheidener aus. „Die Kirche bietet in Kontinuität mit ihrer Tradition und in Übereinstimmung mit den Weisungen ihrer Soziallehre den europäischen Institutionen den Beitrag ihrer gläubigen Gemeinden an, die versuchen, die Verpflichtung zur Humanisierung der Gesellschaft von dem im Zeichen der Hoffnung gelebten Evangelium her zu realisieren.“

Wie aber sieht es mit der Annahme dieses großzügigen Angebots aus? Leidet die päpstliche Beschwörung eines verpflichtenden europäischen Werteuniversums nicht an dem gleichen Mangel, der auch den entsprechenden aktuellen Wertschöpfungen unserer deutschen Intellektuellen von Jürgen Habermas bis Hans-Ullrich Wehler anhaftet? Dass sie das Denken und Fühlen des Publikums verfehlen, ja verfehlen müssen, weil allgemein geteilte Wertüberzeugungen angesichts der Auflösung traditioneller Gesinnungsgemeinschaften und geschlossener Milieus, angesichts der systemischen Differenzierung der Gesellschaft gänzlich illusorisch sind? Den meisten Gesellschaftstheoretikern gilt selbst die Bindungswirkung einer staatsbürgerlichen „Zivilreligion“ als zweifelhaft. Sie sehen darin ein anämisches Kunstprodukt. In der empirischen Sozialforschung wird hier vorsichtig geurteilt. Thomas Luckmannn etwa, seit langem mit Sinnvermittlung und moralischer Kommunikation befasst, resümiert die Untersuchungen zur „Moral im Alltag“. Er macht gruppen- und milieuspezifische moralische Bedeutungsbestände aus, die „über einen rein utilitaristischen Individualegoismus auf der einen Seite und bloß prozedurale Legitimation des Bestehenden auf der anderen hinausgehen“. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass es „Moralen“ – die Pluralsetzung ist hier wesentlich – „von traditionellen und neueren Gesinnungsgemeinschaften gibt, die im täglichen Leben wirksam sind und sich in der kommunikativen Praxis reproduzieren“.

Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob solche Wertorientierungen mit dem Projekt Europa in Verbindung zu bringen sind, ob sie politisch aktualisiert werden können, etwa im Zeichen einer universalistisch ausgerichteten europäischen Friedenspolitik. Auch hier sind die Hoffnungen des Papstes von denen der laizistischen europäischen Wertefans nicht allzu weit entfernt. Weshalb die Lektüre des päpstlichen Sendschreibens auch mehr sein sollte als eine nostalgische Erinnerung an vergleichbare Produkte aus der Zentrale einer anderen, untergegangenen Internationale.

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