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Halbgares Konzept für ganze Tage

Die Grundschulen sind künftig auch für die Nachmittagsbetreuung zuständig. Das klingt sinnvoll. Doch statt pädagogischer Konzepte gibt es organisatorisches Chaos. Ein Beispiel aus Schöneberg

VON SABINE AM ORDE

Klaus Böger will „eine Kulturrevolution“ in die Schulen tragen. Dass er sich mit dieser Anspielung auf die chinesische Geschichte sprachlich vergriffen hat, dürfte dem SPD-Bildungssenator längst klar sein. Doch der „Paradigmenwechsel von der Halbtags- zur Ganztagsschule“, wie der Senator einen Teil seines Unterfangens gerne nennt, könnte die Grundschulen tatsächlich umkrempeln – würde er denn konsequent umgesetzt.

Doch keineswegs sollen künftig alle 417 Grundschulen der Stadt wirkliche Ganztagsschulen sein, mit neuen pädagogischen Konzepten für Leben und Lernen für alle von 8 bis 16 Uhr. Die weitaus meisten Schulen bekommen zunächst sichere Betreuungszeiten bis halb zwei, was dann sperrig „verlässliche Halbtagsgrundschule“ heißt. Nachmittags soll sich der offene Ganztagsbetrieb anschließen. Also das, was sich bislang in Horten und Schülerläden abspielt. Oder genau das eben nicht: Denn begreift man die Ganztagsschule als pädagogisches Konzept, dann muss sie mehr sein als das Nacheinander von Schule und Hort.

Doch um pädagogische Konzepte geht es bei Bögers Paradigmenwechsel bislang kaum. Zu groß ist die organisatorische Herausforderung: Zum Schuljahr 2005/2006 sollen die Schulen für die Nachmittagsbetreuung ihrer Kinder zuständig sein, so steht es im neuen Schulgesetz. Bis dahin müssen 33.000 Betreuungsplätze von den Kitas an die Schulen verlagert werden. Eine gewaltige Umstrukturierung. „Wir wissen immer noch nicht, wie das Ganze organisiert sein soll“, sagt Lydia Sebold, Leiterin der Grundschule am Barbarossaplatz. Dabei ist Sebold die, die diesen Prozess für ihre Schule durchführen soll.

Die Schule am Barbarossaplatz ist eine kleine, zweizügige Kiezschule in Schöneberg. Gut 300 Kinder kommen hier täglich zum Unterricht, ein Drittel von ihnen ist nichtdeutscher Herkunft. 150 der SchülerInnen, das sind fast 80 Prozent der Erst- bis Viertklässler, werden nachmittags im Schülerladen, im städtischen Hort oder einer Einrichtung der freien Träger betreut. Dafür wird ab 2005 die Schule zuständig sein. Lydia Sebold setzt das unter Druck.

In dem denkmalgeschützten Altbau am Barbarossaplatz gibt es für das Nachmittagsprogramm schlicht keinen Platz. Die Schulleiterin muss mit dem Bezirk also nicht über Raumgrößen, Umbaumaßnahmen und pädagogisch unvertretbare Doppelnutzung von Klassenräumen streiten. Sie muss Kooperationspartner suchen. Das Problem: Sebold weiß nicht, unter welchen Bedingungen sie kooperieren soll. Die meisten Anbieter im Kiez sind freie Träger. Diese verhandeln noch mit dem Land über eine Rahmenvereinbarung, die die Basics regeln soll: Finanzierung, Personal- und Raumfragen. Sie soll im Oktober vorliegen, doch man hört, dass sie sich weiter verzögern wird. „Ich kann mit der Vorbereitung erst richtig anfangen, wenn es eine Vereinbarung gibt“, sagt Sebold.

Erste Gespräche hat sie dennoch bereits mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) geführt, das schon den Schülerclub für die Fünft- und Sechstklässler in der Barbarossaschule betreut. Das PFH, das ErzieherInnen ausbildet, betreibt auch eigene Kindertagesstätten und Horte. Es könnte – nach interner Umstrukturierung – auf seinem Hauptgelände, nur wenige Gehminuten vom Barbarossaplatz entfernt, die Betreuung für die 150 Kinder anbieten. Das PFH gilt als gute, engagierte Einrichtung. Für Sebold ist das ein Glücksfall. „Ich kann nicht mit fünf oder sechs Anbietern kooperieren“, sagt sie. „Das schaffe ich einfach nicht.“ So einfach haben es andere SchulleiterInnen nicht.

Für die vielen Schülerläden im Barbarossakiez aber heißt das: Eine Zusammenarbeit mit der Schule wird es nicht geben. Daran ändert auch nichts, dass sich elf Läden jetzt zu einem Verbund zusammenschließen.

Einer davon ist der Schülerladen Smilie, der seit 22 Jahren in der Kyffhäuserstraße direkt hinter der Barbarossaschule liegt. Von den 20 Smilie-Kindern besuchen zwölf die kleine Kiezschule. „Das ist optimal, sie müssen keine einzige Straße überqueren“, sagt Vorstandsfrau Regina Holzkamp. Ohne Koopererationsvertrag wird es das künftig nicht mehr geben. Für bereits angemeldete Kinder ist es spätestens 2008 vorbei – zumindest das hat die Bildungsverwaltung festgelegt. Allerdings könnte der Schülerladen vorher Pleite gehen.

Holzkamp hofft nun auf die Zusammenarbeit mit anderen Schulen. Mittelfristig aber ist klar: Die Schülerläden werden auf der Strecke bleiben. „Nach der Umstrukturierung wird es die Schülerläden in ihrer heutigen Form nicht mehr geben“, sagt auch Roland Kern vom Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS). „Insgesamt steht ein funktionierendes Ganztagssystem auf dem Spiel, obwohl es noch nichts Neues gibt.“ Kern befürchtet pädagogischen Qualitätsverlust.

Bildungssenator Böger nimmt das Sterben der Schülerläden in Kauf. Vertretbar könnte das sein, wenn mit der Umstrukturierung ein pädagogischer Fortschritt für alle Kinder einherginge, der auch finanziell abgesichert ist. Doch danach sieht es nicht aus. „Bisher stehen finanzielle und personalpolitische Überlegungen im Vordergrund“, kritisiert denn auch Elfi Jantzen, die Fachfrau der Grünen. „Es ist höchste Zeit für ein pädagogisches Konzept, das den Namen Ganztagsschule verdient.“

Bislang aber geht es allein um die räumliche Verlagerung – und die sorgt für Unruhe vor Ort. „Ich habe noch nie so viel Unsicherheit bei Eltern erlebt“, sagt Schulleiterin Sebold. Auch unter den ErzieherInnen ist die Aufregung groß: Sie bangen um ihre Jobs. Ein Teil dieser Ängste könnte verhindert werden, wäre der Prozess besser organisiert.

Das liegt freilich nicht nur an der Bildungsverwaltung, einige Bezirke verschärfen das Problem. Besonders schlecht scheint die Lage in Tempelhof-Schöneberg zu sein. Während andere Bezirke ressortübergreifende Arbeitsgruppen eingeführt haben, die möglichst viel Transparenz schaffen sollen, blockieren sich in Tempelhof-Schöneberg SPD-Jugendstädträtin Angelika Schöttler und CDU-Schulstadtrat Dieter Hapel gegenseitig. Staatssekretär Thomas Härtel (SPD) sah sich jüngst gar genötigt, die beiden einzubestellen. Er forderte, dass sie ihre Planung untereinander abstimmen und mit einheitlichen Zahlen operieren. „Wir bekommen manchmal unterschiedliche Informationen vom Bezirk“, sagt auch Schulleiterin Sebold.

Auch sie selbst steht unter Druck. Sie hat so viel mit der Organisation zu tun, dass für pädagogische Überlegungen bislang kaum Zeit bleibt. Mit einer Verzahnung von Schule und Hort – nicht nur nachmittags – aber steht und fällt das neue Konzept. Deshalb fordern an der Barbarossaschule Schulleiterin, LehrerInnen und Eltern, dass man die Umstrukturierung um ein Jahr verschiebt und so den Zeitdruck rausnimmt. Erfolg haben dürften sie damit nicht. In Berlin wird 2006 gewählt. Dann will der rot-rote Senat in der Bildungspolitik einen Erfolg vorweisen.

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