piwik no script img

Abschied vom bunten Hund

Staatsbegräbnis, hausgemacht: Im Tone eines New Orleans-Funerals trägt Hannover Michael „Mike“ Gehrke zu Grabe

von Michael Laages

Das größte Kirchenschiff der Stadt war auch nicht groß genug – für ihn und für alle, die anheuern wollten für diese letzte Fahrt. Noch auf den weiten Platz vor der Marktkirche mussten die Worte und Töne vom Abschied, vom Tod und vom Jazz, vom Sterben und Singen und Tanzen übertragen werden; als wolle halb Hannover diesem „bunten Hund“ die letzte Ehre geben.

So hatte Herbert Schmalstieg ihn in aller Liebe und unter Tränen tituliert, der Oberbürgermeister jener Stadt, die zu Deutschlands grauesten Mäusen zählte, bevor Michael Gehrke deren „Imagepflege“ übernahm. Und wie viel Farbe dieser sonderbare Hansdampf in allen Gassen dann tatsächlich in eben diese Gassen tupfte, das hat die Trauergemeinde nach der stilvollen Zeremonie im Ton eines New-Orleans-Funerals auf sinnige Weise erkundet: Viele Hundert Menschen unter Mitnahme einiger Jazz-Kapellen schritten in gemeinschaftlichem Stadtrundgang all jene Stationen ab, an denen Gehrke eigenwillig Spuren hinterlassen hat.

Da war niemand, der zum Abschied nicht die eigene ganz private kleine Erinnerung an diesen außergewöhnlichen Menschen und Macher mitgebracht hätte. An den schrägen Mode-Freak mit Schlägermütze und mit Schnäuzer etwa, der da Mitte der 60er-Jahre wie aus Londons Carnaby Street herüber geweht schien ins biedere Biotop an der Leine. Tatsächlich kam der Hannoveraner vom Kriegsjahrgang 1943 da aus den USA zurück, wo er sich ganz der Musik zugewandt hatte, der schon Teen verschrieben war: dem Jazz. Vom „Rhythmus des Herzens“ in dieser Musik war in der Erinnerung an den Enthusiasten Gehrke die Rede. Oft wird vergessen, wie unwillkommen diese Musik damals war, in den 50ern des beginnenden West-Wirtschaftswunders. „Negerjazz“ war das für all die, die noch mit Nazi-Märschen aufgewachsen waren; verhasst war diese Musik, selbst wenn sie so brav und im gemütlichen Old-time-Ton daherkam wie bei „Mike“, der das Banjo und die Gitarre schrubbte in Gruppen, die sich „Hallelujah Ramblers“ oder „Backstairs“ nannten.

So war es nicht selbstverständlich, dass dieser junge Mann und ein paar Freunde anno ’66 den Keller des ältesten hannoverschen Jugendheimes auf dem Lindener Berge hippie-orange anmalten und ihn „Jazzclub“ nannten. Viel hat sich seither nicht geändert in diesem Gewölbe – nur dass in diesen 38 Jahren eben alles, was Namen hat und Rang in der Jazzszene weltweit, hier angetreten ist. Und in den allermeisten Fällen saß der freundliche Herr mit dem Schnauzbart im Hinterzimmerchen und telefonierte von dort in aller Welt herum, um möglichst illuster den Spielplan zu füllen. Schon diese eine Rolle hätte im Tode die innigste New Orleans-Beschwörung gerechtfertigt, mit „Nobodys knows the trouble I’ve seen“ am Altar sowie zum Finale Duke Ellingtons furiosem „Sacred Concert“ und im Chor für die ganze, mit viel Kloß im Hals singende Gemeinde schließlich „Amen“.

Mike Gehrkes Geschichte ist aber mehr: nämlich die einer folgenschweren Erfindung. Kommunale Imagepflege betrieb er zu Zeiten, da in der Städtewerbung von „Standort-Marketing“ niemand etwas ahnte. Mit dem Kunstvereins-Direktor Manfred de la Motte hatte Gehrke die Künste auf die Straße bringen wollen; und damit auch die behäbigeren Bürger sich möglichst schnell daran gewöhnten, wurde um die Kunst herum ein Fest vom Zaun gebrochen. 1970 war das: Auf dem Maschsee schwamm eine begehbare Bratwurst und in den engen Straßen der historischen Altstadt wabbelte Babbelplast; etwa so wie heute in den Hüpfburgen auf dem Kinderspielplatz.

Das Experiment zeigte erstaunliche Wirkungen: mit gut 200.000 Besuchern beim ersten Altstadtfest. Sehr lange ging das in den Folgejahren gut. Bis die Stadt als Finanzier ausstieg und die Bier- und Bratwurstbuden alle Mühen um eine Art Gleichgewicht zwischen Künsten und Kommerz zunichte machten.

Vom Kunstverein war der bewährte Werbestratege inzwischen in städtische Dienste gewechselt; nun beamteter „Imagepfleger“ der Stadt, behielt Gehrke die fremde Kundschaft wie die Einheimischen im Auge. Hatte er schon 1967 mit dem Künstler Reinhard Schamuhn einen der ersten Flohmärkte in Deutschland erfunden, so kreierte er nun für schnelle Gäste den „Roten Faden“: einen an allen innerstädtischen Sehenswürdigkeiten vorbei führenden, aufs Pflaster gemalten Streifen mit Ziffern und Erklärungsbüchlein.

Das heimische Publikum lud Gehrke zu immer neuen Festivitäten; manchmal mit viel Hintersinn. Als sich etwa 1974 die Aufstellung dreier bunter „Nana“-Skulpturen aus der Werkstatt der französischen Pop-art-Künstlerin Niki de Saint-Phalle gegenüber vom Landtag zum handfesten Skandal zu entwickeln begann, half – ein Fest. Heute spenden die Hannoveraner für die Renovierung der weltweit bekannten Wahrzeichen mehr als damals die Anschaffung kostete. Und die Künstlerin blieb der Stadt bis zum Tode treu: mit der schrill-schönen Grotte in den Herrenhäuser Gärten und der großzügigen Schenkung von Werken aus dem Nachlass.

Mike Gehrke war hier Türöffner und Kontaktbeamte; sein Briefwechsel mit der Künstlerin ist ein Kunstwerk für sich. Für das geplante „Jazz-Museum“, dessen Gründung Gehrke bis zum Schluss mit Verve voran trieb, fertigte Niki noch eine komplette Louis-Armstrong-Statue. Diese Ikone wird allemal im Eingangsbereich des Museums stehen – wenn es denn jemals gebaut werden sollte. Und wer weiß, vielleicht erfüllen die Stadtregenten von heute dem „bunten Hund“ ja auch einen anderen, noch unverwirklichten Traum: und bringen den Maschsee zum Leuchten. Von unter dem Wasser herauf illuminiert – so hatte er sich das städtische Gewässerchen gewünscht. Damit es auch vom Himmel herab noch gut zu sehen ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen