: Guerillaüberfälle in Inguschetien
Bei mehreren Angriffen in der Kaukasusrepublik kommen 48 Personen ums Leben. Bei den Tätern handelt es sich vermutlich um tschetschenische Rebellen. Die Vorfälle zeigen, dass entgegen der Moskauer Lesart der Krieg keineswegs beendet ist
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Bei einem Angriff von Guerillaeinheiten am späten Montagabend in der nordkaukasischen Republik Inguschetien sind nach ersten Angaben 48 Menschen ums Leben gekommen. Mindestens 60 wurden zum Teil schwer verletzt. Etwa zweihundert Rebellen waren laut vorläufigen Erkenntnissen am Montagabend von den Nachbarrepubliken Nord-Ossetien und Tschetschenien auf inguschetisches Gebiet vorgedrungen und hatten mehrere Orte gleichzeitig überfallen.
Die schwersten Gefechte lieferten sich die Guerillas mit Milizionären im Zentrum der inguschetischen Hauptstadt Nasran. Bei den Kämpfen um das Innenministerium starben 18 Milizionäre. Unter den Toten im zerstörten Ministerialgebäude befanden sich ein amtierender Innenminister und mehrere Staatsanwälte der Republik, die sich zu ungewöhnlich später Stunde dort noch aufgehalten hatten. Den Vorstoß der Rebellen auf das Regierungsviertel Magas konnten Milizeinheiten angeblich vereiteln. In Karabulak und Slepzowsk nahe der tschetschenischen Grenze kam es ebenfalls zu schweren Kämpfen.
In einem Telefongespräch mit dem Sonderbeauftragten Präsident Putins für die russische Südregion, Wladimir Jakowlew, hatte der inguschetische Präsident, Murat Sjiasikow, bereits gegen zwei Uhr nachts Entwarnung gegeben: Die Lage sei wieder unter Kontrolle. Die Kämpfe hielten indes bis in die frühen Morgenstunden an.
Und auch nachdem sich die Gefahr gelegt hatte, wussten die Offiziellen vor Ort nicht, wohin sich die Guerillas zurückgezogen hatten. Nach wie vor ist unklar, ob die Eindringlinge die Republik verlassen haben, in Inguschetien untergetaucht sind oder sich in die Bergregion im Süden abgesetzt haben.
Moskau und russische Militärs in Tschetschenien waren unterdessen auffallend bemüht, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich bei dem Angriff um ein für ein Krisengebiet ganz normales Vorkommnis. Verteidigungsminister Sergej Iwanow dementierte denn auch Berichte, wonach Moskau die Militärpräsenz in der Region verstärken wolle. Der Kreml fürchtet dies zu Recht, weil er damit die eigene Propaganda, die den Krieg im Kaukasus seit Jahr und Tag für beendet und die Region für befriedet erklärt, Lügen strafen würde. Dennoch müssen die Verantwortlichen Rede und Antwort stehen, wie mindestens zweihundert bewaffnete Rebellen unbemerkt über die Grenze einfallen, bis ins Zentrum der Hauptstadt vorrücken, nach „getaner Arbeit“ schließlich die Sachen packen und sich flugs in Luft auflösen konnten.
Nach der amtlichen Lesart sind die Rebellen nicht in Gruppen aufgetaucht, sondern einzeln eingesickert. Dies mag aber auch nur eine Schutzbehauptung der Behörden sein. Erklärungsbedürftig ist auch, warum die Rebellen außer zwei Gefallenen keine Verluste hatten.
Die Aufständischen versetzten Moskau innerhalb von zwei Monaten einen weiteren, höchst symbolischen Schlag. Am 9. Mai, dem Tag des Sieges über den Nationalsozialismus, sprengten Gegner den moskautreuen Präsidenten, Achmed Kadyrow, in die Luft. Zum 60. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion führten die Guerillas den Kreml gestern erneut vor.
Bislang hat niemand die Verantwortung für den Überfall übernommen. Der russische TV-Sender NTW mutmaßte, der tschetschenische Feldkommandeur Doku Umarow könnte dahinter stecken. Nach Moskauer Wahrnehmung gibt es indes immer nur einen Schuldigen: den vertriebenen, aber legitimen Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow. Der Kreml weigert sich, mit ihm Verhandlungen aufzunehmen, die allein zu einer Entspannung führen könnten. Ließe sich Moskau auf Gespräche mit Maschadow ein, würde es ebenfalls eingestehen, den seit fünf Jahren wütenden Krieg nicht gewonnen zu haben. Auch der Terrorist und radikale Wahhabit Schamil Bassajew hat sich bisher nicht zu dem Überfall bekannt.
Letzte Woche hatte Maschadow gegenüber Radio Liberty angekündigt, keine Diversionsakte mehr zu verüben, sondern im Vorfeld der tschetschenischen Präsidentschaftswahlen im August eine breit angelegte militärische Operationen zu lancieren.
In einem vertraulichen Papier hatte der ehemalige Sonderbeauftragte Putins im Kaukasus, General Wiktor Kasanzew, bereits 2002 dem Kreml nahe gelegt, die Konfliktzone auf Inguschetien auszudehnen. Nicht nur die Separatisten haben ein Interesse an der Instabilität im Nordkaukasus.
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