: Washington regiert weiter
Mit 98 „rechtsverbindlichen Dekreten“ wollen die USA bis 2009 im Irak mitbestimmen – auch wenn die Dekrete im Widerspruch zum Völkerrecht stehen
AUS GENF ANDREAS ZUMACH
Auch nach der gestern offiziell vollzogenen Machtübergabe an eine „souveräne“ Regierung in Bagdad wollen die USA weiterhin erheblichen Einfluss im Irak ausüben. Und dies nicht nur durch die fortgesetzte Anwesenheit von derzeit 149.000 Soldaten, die durch die jüngste Irakresolution (1586) des UNO-Sicherheitsrates zumindest formell eine wenn auch fragwürdige völkerrechtliche Legitimation erhalten haben. Sondern auch durch 98 „rechtsverbindliche Dekrete“ die der bisherige Besatzungschef Paul Bremer in den letzten Wochen vor seiner Abreise erlassen hat.
Unter anderem regeln diese Dekrete wichtige Aspekte der künftigen Wahlgesetzgebung Iraks, der Wirtschaftsordnung und des Strafrechts sowie die Immunität US-amerikanischer Soldaten und Zivilisten gegenüber der irakischen Justiz. Die Mehrheit dieser Dekrete soll für fünf Jahre gelten – und damit nicht nur die jetzt amtierende Interimsregierung binden, sondern auch die endgültige Regierung des Landes, die aus für Ende 2.005 geplanten freien Wahlen hervorgehen soll. Für derartige Dekrete der bisherigen Besatzungsmacht gibt es weder in der UN-Resolution 1586 noch an anderer Stelle im Völkerrecht irgendeine Legitimation. Bereits Anfag Juni – als über die UN-Resolution im Sicherheitsrat noch verhandelt wurde – ernannte Bremer per Dekret für jedes der 25 Ministerien der Interimsregierung einen von ihm ausgewählten „Generalinspektor“. Diese Inspekteure sollen bis Mitte 2009 im Amt bleiben.
Das Dekret, das künftig wohl zu den größten Konflikten führen dürfte, ist die Wahlgesetzgebung, die Bremer am 15. Juni unterzeichnete. Danach sind Parteien, die in Verbindung zu einer Miliz stehen oder standen, von Wahlen ausgeschlossen. Eine siebenköpfige Wahlkommission, deren Mitglieder von Bremer ernannt wurden, soll einen Verhaltenskodex für politische Kandidaten erlassen, der „Hassreden, Einschüchterung sowie die Anwendung oder Unterstützung terroristischerMaßnahmen“ verbietet. Die Kommission hat das Recht, Parteien oder Kandidaten, die nach ihrer Einschätzung gegen diese Regeln vestoßen, von der Teilnahme an Wahlen auszuschließen.
Diese Bestimmungen könnten zum Ausschluss von Schiitenführer Mohammed al-Sadr führen, der nach monatelangen militärischen Auseinandersetzungen mit den US-geführten Besatzungstruppen kürzlich seine Absicht zur Teilnahme am politischen Prozess und zur Kandidatur bei künftigen Wahlen erklärt hatte.
Ein weiteres Dekret Bremers verbietet Mitgliedern der ehemaligen irakischen Armee für 18 Monate nach ihrem Dienstende die Übernahme öffentlicher Ämter. Exsoldaten oder auch Zivilisten, die während der Besatzungszeit Granaten und andere großkalibrige Waffen verkauft haben, sollen eine Mindeststrafe von 30 Jahren Gefängnis erhalten. Diese Bestimmungen sowie die Wahlgesetzgebung könnten schon bald in Konflikt geraten mit der Amnestie, die der neue Regierungschef Ajad Allawi am Wochenende für die Unterstützer von „Widerstandsaktionen“ gegen die Besatzung angekündigt hatte.
In verschiedenen Dekreten zu Wirtschafts-, Finanz- und Steuerfragen setzte Bremer den künftigen irakischen Steuersatz auf maximal 15 Prozent fest und erließ Regeln für die Privatisierung der irakischen Wirtschaft wie auch für den Schutz von Microchip-Designs sowie von Urheber- und anderen intellektuellen Besitzrechten. Mit diesen Regeln soll nach Aussage von Mitarbeitern Bremers der Beitritt Iraks zur Welthandelsorganisation (WTO) erleichtert werden.
Bremer verlängerte auch seine völkerechtswidrige „Verfügung 39“, mit der er im September 2003 rund 200 irakische Unternehmen privatisierte. Weitere Dekrete verbieten Arbeit von Kindern unter 15 Jahren und „den Gebrauch der Autohupe außer in Notfallsituationen“. Sein letztes Dekret erließ Bremer am Wochende: Es verlängert die zu Beginn der US-geführten Besatzungskoalition erlassene „Verfügung 17“, mit der sämtlichen Angehörigen dieser Koalition – Soldaten wie Zivilisten – vollständige Immunität gegenüber der irakischen Justiz sowie gegen die Festnahme oder Inhaftierung durch irakische Sicherheitskräfte gewährt wird. Diese Immunitätsbestimmungen gelten künftig unverändert für alle Soldaten und Zivilangehörigen der seit gestern als „multinationale Truppe“ unter US-Kommando firmierenden ausländischen Streitkräfte im Irak und neu auch für Personen, die an Aufbauprojekten beteiligten sind.
Laut einem ebenfalls von Bremer formulierten Anhang zu der seit März dieses Jahres geltenden vorläufigen Verfassung können die 98 Dekrete nur schwer außer Kraft gesetzt werden. Das geht nur, wenn sowohl Regierungschef Allawi als auch eine Mehrheit seiner 25 Minister und außerdem der Präsident und seine beiden Stellvertreter zustimmen.
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