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Vom Abbild zur Abstraktion

Wenn sich die Porträtierten nicht wiedererkannten, brauchten sie das Bild nicht zu kaufen: Eine Ausstellung im Hamburger Bucerius Kunst Forum zeigt Henri Matisse als immer abstrakter werdenden Experimentator mit dem menschlichen Gesicht

Manche mögen Matisse. Andere halten seine Kunst für gefälligen „Lehnstuhl-Hedonismus“. Doch dieser meist abwertend gebrauchte Begriff stammt sogar vom Meister des Fauvismus selbst. Als „Fauves“, als „Wilde Tiere“ wertete die Pariser Kritik die um 1905 sich vom Impressionismus abwendenden Maler. Doch im Gegensatz zu dieser in die Kunstgeschichte eingegangenen Bezeichnung fand Henri Matisse (1869 – 1956), dass seine Kunst Ruhe ausstrahlen und jedem Teil des Bildes die gleiche Aufmerksamkeit schenken solle. Diesem Anspruch wird die aktuelle Ausstellung im Hamburger Bucerius Kunst Forum gerecht: Sie zeigt keine wilden, im Farbenrausch hingeworfenen Bilder Matisses, sondern fokussiert einen sorgsam porträtierenden Maler.

Unglaubliche 14 Sitzungen waren beispielsweise nötig, um für das nicht einmal postkartengroße Bild des Kritikers, Verlegers und Sammlers George Besson 1918 den richtigen Ausdruck zu finden: Während die ersten Bilder noch getreue Abbilder des Porträtierten sind, bleibt in den letzten nur noch eine maskenhafte Reduktion mit schematisierten Augenbrauen und höhlenhafter, schwarzer Augenpartie. Erst das Wesen des Dargestellten erfassen und es dann ins Allgemeine zu überhöhen – ein fast religiöses Prozedere eines Künstlers, der die Ikonen ebenso bewunderte wie afrikanische Skulpturen und das archaische Lächeln auf den Gesichtern der frühgriechischen Plastik.

Mit der Schau „Matisse. Menschen, Masken, Modelle“ spielt das Hamburger Bucerius Kunst Forum wieder seine Stärken aus: Kleine, hochrangig bestückte Ausstellungen zu einem präzise begrenzten und im gegebenen Rahmen gut abhandelbaren kunsthistorischen Thema. Tatsächlich ist die von der Direktorin Ortrud Westheider wesentlich konzipierte Ausstellung die erste überhaupt, die sich dem Porträt bei Matisse widmet. Zusammen mit der Staatsgalerie Stuttgart durchgeführt, zog sie dort bereits 120.000 Besucher an.

In Hamburg wird eine Auswahl von 33 Gemälden, 37 graphischen Arbeiten und sechs Bronzen aus dem Gesamtwerk präsentiert. Sie zeigt den Versuch dieses Klassikers der Moderne, Familie und Freunde, bezahlte Modelle und Bildniskunden zugleich als Individuum und als Typus zu erfassen. Wenn Figur und Raum das Gesicht als Ausdrucksträger ablösen, tauchen bei Matisse auch ganz blicklose Köpfe auf: Die Person ist zu einem Zeichen geworden, das ganze Bild zu einem Portrait der Situation.

Von einer der Frau, die Matisse porträtierte, ist der Ausspruch überliefert, ihm sei es gelungen, nicht nur sie zu charakterisieren, sondern auch ihren Vater und ihre Tochter mit in der Zeichnung erscheinen zu lassen. Doch mit dieser Fähigkeit schuf er sich nicht nur Freunde: Manche der von Matisse Portraitierten lehnten ihr im Laufe der Sitzungen immer unpersönlicher werdendes Auftragsbild ab – eine Option, die Matisse ausdrücklich in den Verträgen einräumte.

Im Vergleich von Zeichnung und Ölbild zeigt sich, wie der Künstler das Erscheinungsbild einer Person mehr und mehr mit den eigenen Vorbildern abglich, in den Farben umdeutete und mit den Strukturen der Kleidung und des Umraumes malerisch vernähte. So wird aus der auf hohem Hocker sitzenden 19-jährigen Germaine Raynal eine alterslose, etwas verloren wirkende Frau: Mit schwarzen Linien im unbestimmten grauen Raum, in fast an Giacometti erinnernder expressiver Betonung der Vertikalen, entsteht eine melancholische Stimmung, ein geradezu existenzialistisches Bild. Bei „Laurette mit Kaffeetasse“ bezieht sich Matisse in der Armhaltung auf Courbet, von dem er Zeichnungen besaß, mit dem Bild „Bei der Toilette“ auf den verehrten Renoir. Und Sarah Stein erhebt der Maler durch den frontalen Blick und das auratische Haarrund fast zu einem Heiligenbild. Das mag auch private Gründe gehabt haben, zählten Sarah und Michael Stein doch zu den wichtigsten Sammlern der Werke von Matisse.

Vom kräftigen Selbstportrait im Matrosenpulli, mit dem der ausgebildete Jurist aus bürgerlichen Kreisen sich mit damals revolutionärem Dress-Code in die Kunstwelt einbringt, bis zur fast abstrahierten Aquatinta von 1951, die drei Köpfe zeigt, von dem grauen Akt von 1914 bis zu dem wie ein früher Warhol wirkenden Kopf der „Madame L. D.“ von 1947: Henri Matisse exerziert die Formen der Abstraktion mit allen Schwierigkeiten ausgerechnet an dem Sujet durch, das traditionell auf abbildende Ähnlichkeit angelegt ist. Dieses lebenslange Ausdrucksexperiment anhand der Ausstellung zu begleiten, ist noch heute ein spannendes Vergnügen.

HAJO SCHIFF

Die Ausstellung „Matisse. Menschen, Masken, Modelle“ ist bis 19. 4. im Hamburger Bucerius Kunst Forum zu sehen.

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