Das Gesetz des Gesetzes: Murnaus „Tabu“ im Metropolis: Der Riss im Paradies
In gleißender Gischt fangen junge Polynesier an einem Pazifikstrand Fische. Kein Broterwerb, sondern Spiel; das Meer gibt im Überfluss. Wenige Schritte vom Strand lockt im Urwald ein Wasserfall mit Erfrischung, dahinter warten schon junge Polynesierinnen und lassen sich kichernd auf neckische Fangspiele ein. Bald darauf setzt sich das „Hasch mich, vernasch mich“ in raffinierten Tanzritualen von berückender Sinnlichkeit fort. Die Bilder zergehen in hypnotischem Kreisen, Hände tanzen, Blumenkränze wippen.
„Paradise“ heißt der erste Teil von Friedrich W. Murnaus Dokudrama Tabu (1931), doch der heile Schein trügt. Für die schöne Reri, die der Tanz ehren soll, ist er ein Grauen. Gefeiert wird ihre Erhebung zur heiligen Jungfrau der Götter. Über sie wurde das Tabu verhängt. Kein Mann wird sie mehr berühren dürfen, bei Todesdrohung, auch nicht Matahi, in den sie sich beim Plantschen im Bach verliebt hat.
Mahati und Reri fliehen vor dem Bannfluch in eine von Weißen beherrschte Perlenhandelsstadt und geraten in die Fänge der Zivilisation. Hier mischen sich eigene und fremde Sitten, auch hier wird getanzt: In starken Bildern zeigt Murnau, wie sich Barfuß und Stöckelschuh auf dem Parkett treffen. Gerissene Kneipiers stürzen Mahati in Schulden und verhindern so die Flucht des Paares. Murnausche Schatten legen sich über Reris nächtliches Lager. Das Tabu holt sie ein.
Tabu träumt nicht den westlichen Traum von seligen Inseln, Utopia oder dem Edlen Wilden. Vielleicht liegt darin, so kann spekuliert werden, ein Mitgrund für das Zerwürfnis mit Co-Autor Robert Flaherty, mit dem der von Hollywood frustrierte Murnau das Projekt auf einem gemeinsamem Segeltörn durch den Südpazifik erarbeitet hatte. Flaherty hatte in Nanuk, der Eskimo (1922) und Moana (1925) mit einheimischen Darstellern den ursprünglichen Menschen in seiner Naturnähe verherrlicht. Bedroht war er nur durch die Zivilisation, was diese wunderschönen Filme als eben deren Wunschprojektionen entlarvt.
Tabu zeigt dagegen, dass der Riss schon durch die „ursprüngliche“ Gesellschaft selbst geht. Dieser Riss ist das Gesetz. Der zweite Teil ist „Paradise Lost“ betitelt, aber der Sündenfall liegt nicht in Reris und Mahatis Übertretung, sondern in der Existenz des Gesetzes selbst. Ein Paradies, in dem Verbote gelten, ist keines.
Der Polizist der Weißenstadt liefert eine eingängige Erklärung des Tabus. Ein ergiebiger Perlengrund wird von den Einheimischen als tabu gemieden. Der vermeintliche Aberglaube entpuppt sich als berechtigt, als ein Taucher dort von einem besonders gefährlichen Hai getötet wird. Der Polizist bringt ein läppisches schwimmendes Verbotsschild an der Stelle an, auf dem „Tabu“ steht.
So lustig dieses Bild ist, so irrig ist diese Rationalisierung des Tabus. Seine Kraft erwächst ihm gerade aus seiner Irrationalität. Es verkörpert symbolisch die absolute Geltung des Gesetzes. Freud schreibt, im kategorischen Imperativ zeige sich das uneingeschränkte Fortdauern des Tabus in der aufgeklärten Welt. Tatsächlich handelt es sich bei beiden um ein und dasselbe Gesetz des Gesetzes, von dem alle andere soziale Ordnung herrührt.
Am Ende von Tabu bleibt eine Hoffnung. Mahati hat das Tabu erneut übertreten und in den verbotenen Tauchgründen eine Perle gefischt, mit der er die rettende Schiffspassage bezahlen will. Damit hat er das Tabu überwunden. Das zeigt: Wir müssen am Gesetz nicht irre werden. Tabu, einer der letzten US- Stummfilme, war auch der letzte Film Murnaus. Er starb auf dem Weg zur Premiere bei einem Autounfall. Jakob Hesler
Samstag, 20.30 Uhr, Metropolis
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