: Zeit für radikale Bündnisse
Aus europäischer Sicht ist es gar nicht so ungewöhnlich, dass Sozialdemokraten bloß ein Viertel der Wählerstimmen ergattern. Die Deutschen müssen sich nur daran gewöhnen
Es gibt ein Land in Westeuropa, in dem alles gut ist: Es verfügt über begnadete Fußballer, die Sozialdemokraten heißen dort noch Sozialisten und haben bei den Europawahlen fast 45 Prozent der Stimmen erreicht. Links von ihnen gibt es dennoch genügend Platz für radikalere Strömungen: Das Bündnis aus Kommunisten und Grünen kam auf fast 10 Prozent, und noch der trotzkistische Linksblock übersprang die Fünfprozentmarke. Gerade noch 33 Prozent der Stimmen sammelten die Konservativen ein, die sich in diesem wunderbaren Land bezeichnenderweise auch noch verschämt „Sozialdemokraten“ nennen. Die Rede ist von Portugal.
Hierzulande haben die Sozialdemokraten das „Projekt 18“ der FDP adoptiert, bloß nähern sie sich von der anderen Richtung an. Dafür muss Schröder nicht Fallschirm springen und braucht Müntefering seine Schuhsohlen nicht zu bemalen. Das Lager jenseits von Union und Liberalen macht einen ziemlich jenseitigen Eindruck: „Ist die SPD noch zu retten?“, wird gefragt.
Nun sind satte 21 Prozent gewiss ziemlich niederschmetternd. Doch in der Tendenz liegt eher die SPD im europäischen Trend, der Ausreißer sind die portugiesischen Sozialisten. Beinahe überall in (West-)Europa verlieren die Regierenden – das war bei den Europawahlen besonders deutlich, der Mechanismus bestätigt sich aber bei den meisten Urnengängen. Darum haben in manchen Ländern die Sozialdemokraten verloren, in manchen gewonnen. Zu den Verlierern zählen die griechische Pasok (34 Prozent), Labour in Großbritannien (22 Prozent), die schwedischen Sozialdemokraten (25 Prozent). Unter den Gewinnern ist, neben den Champions aus Portugal, die spanische PSOE (43 Prozent) die große Ausnahme, im Regelfall liegen auch die erfolgreichen Sozialdemokraten bei kaum mehr als 30 Prozent.
Ob in Dänemark (33 Prozent), Frankreich (28 Prozent), Italien (31 Prozent), den Niederlanden (23 Prozent) oder Österreich (33,5 Prozent) – überall erweist sich, dass Sozialdemokraten oder sozialdemokratisch gefärbte Bündnisse auch in günstigen Fällen auf einem in Bewegung geratenen Wählermarkt zwischen einem Viertel und einem Drittel der gültig abgegebenen Wählerstimmen ergattern können. Das heißt, sie können froh sein, wenn sie jeden fünften Wahlberechtigten für sich einzunehmen vermögen.
In einem solchen Rahmen erscheint das Wahlergebnis der deutschen Sozialdemokraten zwar auch noch schlecht, aber nicht ganz so exzeptionell desaströs.
Stellt man die Ergebnisse auch noch in Relation zu den Resultaten, die beinahe jede dieser Parteien in den vergangenen Jahren schon erzielte, und damit zu ihren Möglichkeiten unter optimalen Bedingungen, so lässt sich konstatieren: Wenn sie den richtigen Kandidaten und die richtigen Themen haben und es auch sonst gut für sie läuft, können Parteien, die heute 25 Prozent erreichen, morgen auch wieder 45 Prozent bekommen. Das heißt aber auch, dass wir eine Vorstellung langsam in die Gerümpelkammer der Polittheorie räumen sollten: dass die großen „Volksparteien“ über einen breiten Sockel an Stammwählern verfügten, über den sich eine dünne, wenn auch letztlich wahlentscheidende Schicht an Wechselwählern erhöbe.
Bei 20 Prozent „Stamm-“ und 20 Prozent „Wechselwählern“ wird diese Unterscheidung zwar nicht völlig unsinnig, sie verändert aber doch ihren bisherigen Sinn. Eher lässt sich von Mainstreamwählern sprechen, also von Leuten, die im Zweifelsfall aus einer Art konservativer Attitüde stärker zu den traditionelleren und größeren politischen Formationen tendieren als zu den kleineren wie den Grünen oder den Liberalen. Darum sind Sozialdemokraten und die traditionellen konservativen Parteien noch immer die größeren politischen Blöcke. Sie sind das aber, bei genauerer Betrachtung, auch nur mehr aufgrund des Wählerverhaltens der Bürger in den rustikaleren Regionen. In den Städten ist das traditionelle Parteiensystem nahezu aufgelöst, gelegentlich regelrecht umgekehrt. So wurden in München die Grünen stärkste Kraft bei den Europawahlen.
Für die deutschen Sozialdemokraten bedeutet das nun: Es gibt einfach keine politische Programmatik, die für ein deutlich besseres Ergebnis der SPD bürgen würde. Es stimmt schon: „Die SPD weiß selbst nicht, welchen Sozialstaat sie will“ (Stefan Reinecke). Nur: Würde sie es wissen, bedeutete das noch lange keinen anderen Wahlausgang. Solche Programme sprechen heute nur mehr Fraktionen der Wählerschaft an. Das gilt selbst für den günstigsten Fall, dann nämlich, wenn es gelänge, die einzelnen Politikvorschläge in ein großes Narrativ einzuweben. Denn die Lebenslagen der Menschen sind derart disparat, dass sich nur ein gewisser Teil der Wähler in einem solchen Narrativ wiedererkennen könnte. Das heißt nicht, dass die Sozialdemokraten nicht gelegentlich die 40-Prozent-Schwelle überspringen können – aber es bräuchte dafür eben das Zusammentreffen einer Reihe günstiger Umstände, zu denen die Aversion gegen die Konkurrenz ebenso zählt wie ein überzeugender Spitzenkandidat und zwei, drei packende Themen, die weniger mit langfristiger Politik als mit Tagesaktualität zusammenhängen (eine Gemengelage wie die, die der SPD insbesondere 2002 zum Sieg verhalf). Grundsätzlich erklärt dies die gegenwärtige No-Win-Situation der Sozialdemokraten: Führt sie den Reformkurs Marke Agenda 2010 weiter, wird sie sich kaum erholen. Wendet sie sich vom Reformkurs ab, wird ihr das aber auch nichts helfen. Unter den gegebenen Umständen würde es ihr sogar schaden, da sie vollends unglaubwürdig würde.
Das muss für den Verein der Freunde linksliberaler Regierungen noch keine schlechte Nachricht sein: Die Tendenzwende, die wir gerade erleben, kann in Einzelfällen die Parteien rechts der politischen Mitte begünstigen, prinzipiell erweitert sie aber vor allem den Spielraum für die eher unorthodoxen politischen Formationen.
So ist jetzt, wie unlängst Franz Walter an dieser Stelle ausführte, nicht nur das Potenzial für eine neue Linkspartei in Deutschland da, auch die Grünen haben die Chance, aus dem Schatten der großen Parteien zu treten. Es ist ja eine lange Übung, dass die Grünen in unserer Vorstellungswelt eher als Korrektiv der großen Blöcke imaginiert werden – sei es in der lange üblichen Gestalt des „rot-grünen Projekts“ oder im modernen jungkonservativen Spleen der „schwarz- grünen Bündnisse“, die regelmäßig ersehnt werden und dann natürlich niemals zustande kommen.
Es wird auch in Deutschland immer vorstellbarer, was in Ländern wie Frankreich, Schweden oder den Niederlanden längst eine gelegentlich geübte Praxis ist: eine linke Mehrheit, in der die Sozialdemokraten kein erdrückendes Gewicht haben. Eine Konstellation, in der die SPD 25 Prozent, die Grünen knapp 20 Prozent repräsentieren (und eine Linkspartei womöglich 5 oder 6 Prozent), ist heute durchaus realistisch. ROBERT MISIK
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen