: Europäische Fehler
Afrikas Politiker grenzen immer öfter Bürger anderer Ethnien aus, um ihre Macht zu sichern. Dem gilt es entgegenzuwirken, sonst riskiert man „ethnische Säuberungen“
Die Afrikanische Union hat die Einigung Afrikas zu ihrem Ziel erklärt. Ein heeres Unterfangen. Zwar arbeiten afrikanische Regierungen immer enger zusammen und sprechen von der Notwendigkeit, ihre Kräfte zu bündeln. Doch gibt es in immer mehr afrikanischen Ländern juristische und zum Teil auch gewaltsame Konflikte über Nationalitätenfragen.
Es geht um die Frage, wer das Recht auf Staatsbürgerschaft hat und wer nicht; wer das aktive und passive Wahlrecht hat; wer Eigentumsrechte beanspruchen darf. Das sind keine „tribalen“ Konflikte – also politisch manipulierte Streitigkeiten einer Ethnie gegen eine andere, bei denen es sich meist um Ressourcen und Ämter dreht. Es geht um die Zugehörigkeit zu einer Nation. In der Elfenbeinküste (Côte d’Ivoire) wollen radikale Nationalisten Teilen der Bevölkerung die nationale Zugehörigkeit, die ivoirité, absprechen und damit die Bürgerrechte; in Simbabwe werden die Nachkommen weißer Siedler enteignet; in der Demokratischen Republik Kongo werden Milizionäre als „Ruander“ oder in der Zentralafrikanischen Republik als „Tschader“ apostrophiert und vom Recht zur politischen Einflussnahme ausgeschlossen.
Afrikas neue Nationalitätenkonflikte hängen eng mit den Demokratisierungsbewegungen der 90er-Jahre zusammen. Solange Diktatoren herrschten, war die gesamte Bevölkerung rechtlos und ihre Zusammensetzung interessierte niemanden. Sobald aber die Menschen Bürgerrechte bekamen, wurde die Frage, wer eigentlich das Mitbestimmungsrecht haben darf, zentral. Politische Führer stigmatisieren Anhänger ihrer Gegner als Fremde, um einen numerischen Vorteil bei Wahlen zu erringen. Bisweilen mit Erfolg.
Wenn ein Staatswesen beginnt, die Bevölkerung des eigenen Landes aufzuteilen in solche, die dazugehören, und andere, die eigentlich in ein anderes Land gehören, öffnet das „ethnischen Säuberungen“ bis hin zum Völkermord Tür und Tor. Die kollektive Verweigerung elementarster Rechte für ganze Bevölkerungsgruppen ist eine der größten Herausforderungen Afrikas auf dem Weg zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Versuche, solche neuen Nationalitätenkonflikte mit neuen Nationalitätengesetzen zu entschärfen, schaffen oft mehr Probleme, als sie lösen. Denn sobald jedem einzelnen Bewohner eines Landes die Pflicht auferlegt wird, seine Nationalität zu beweisen, bevor ein Personalausweis, ein Wahlschein oder gar ein Reisepass ausgestellt wird, geschehen die absurdesten Dinge.
Man stelle sich vor, bei der Gründung der DDR 1949 hätte jeder Bewohner der damaligen sowjetischen Besatzungszone zur Erlangung der DDR-Staatsbürgerschaft seine DDR-Nationalität dadurch belegen müssen, dass seine Eltern oder gar seine Großmutter aus dem Territorium der DDR stammten. Menschen, die das nicht könnten, hätten die DDR verlassen müssen. Das deutsche Meldewesen hätte solche bürokratischen Schikanen immerhin durchführbar gemacht. In Ländern, wo Geburtsurkunden vor allem unter der älteren Bevölkerung eine Rarität sind, ist das Ergebnis ein komplettes Chaos.
Aber genau das ist die Grundlage beispielsweise der ivoirité in der Elfenbeinküste, wo Menschen bürgerliche Rechte aus Gründen der „zweifelhaften Nationalität“ verweigert wird, weil irgendwelche Vorfahren nicht zweifelsfrei innerhalb der Grenzen der Elfenbeinküste zu ihrer Unabhängigkeit 1960 geboren wurden.
Besonders absurd wird dies dadurch, dass bis 1960 die Elfenbeinküste zusammen mit anderen westafrikanischen Ländern nur eine Provinz der Kolonie Französisch-Westafrika war, innerhalb derer die Kolonialherren die Arbeitsmigration ermutigten und zum Teil sogar erzwangen. Zudem förderten nach 1960 die Regierenden in der Elfenbeinküste die Anwerbung von Migranten aus Nachbarländern, vor allem aus Burkina Faso. Seit einigen Jahren wird nun Hunderttausenden der Nachkommen dieser Migranten – zumeist Bauern – sogar das Recht verweigert, ihren Grundbesitz zu vererben.
Dieses Beispiel findet Nachahmer. Manche Nationalisten in der Demokratischen Republik Kongo wollen jedem Bewohner die kongolesische Nationalität verwehren, wenn seine Ethnie nicht nachweislich 1885, dem Zeitpunkt der Gründung der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo, innerhalb der heutigen Grenzen des Landes lebte – ein Argument, mit dem unter anderem die Banyamulenge-Tutsi im Osten des Landes gerne zu „Ruandern“ erklärt werden. Als ob 1885, als die Berliner Kongo-Konferenz die Prinzipien der späteren Aufteilung Afrikas unter Europas Großmächte festlegte, irgendein Mensch in Zentralafrika hätte ahnen können, was da später für seltsame Länder nach willkürlichen Kriterien entstehen würden.
Die Kolonialgeschichte ist nicht unbeteiligt am Aufkommen des neuen Nationalismus in Afrika. Während der Fremdherrschaft herrschte rassische Diskriminierung: Bürgerrechte wurden auf rassischer Basis erteilt oder verweigert. Nach der Kolonialzeit, als afrikanische Politiker die kolonialen politischen Strukturen übernahmen, erschien es daher vielen Afrikanern als normal, dass Bürgerrechte eine ethnische Grundlage haben.
Doch kaum ein Land Afrikas ist ethnisch „rein“, und selbst in den wenigen monoethnischen Ländern – zum Beispiel Somalia oder Ruanda – mangelt es nicht an Konfliktpotenzial gerade auch um nationale Fragen. Die Kontroverse um das Wesen von Hutu und Tutsi in Ruanda unterstreicht, wie leicht in Ermangelung realer ethnischer Vielfalt subjektive ethnische Identitäten von Politikern und Intellektuellen konstruiert werden, wenn dies machtpolitisch günstig erscheint.
In multiethnischen Staaten, deren Völker erst durch die gemeinsame Erfahrung einer Kolonialherrschaft und der darauf folgenden Staatswesen zusammengeführt wurden, zeigt sich umgekehrt, dass auch nationale Identitäten auf einer multikulturellen Basis subjektiv konstruiert werden können. Nigerianer, Kongolesen oder Südafrikaner gab es vor der Kolonialzeit nicht. Es ist unmöglich, sie ethnisch zu definieren. Aber heute sind es drei sehr prononcierte nationale Identitäten, die jede für sich zahlreiche unterschiedliche Ursprünge und Kulturen beinhalten. Es ist die jeweils sehr eigene Leidensgeschichte Nigerias, Kongos und Südafrikas, die die Menschen in diesen Ländern sich als gemeinsame Bürger eines Landes begreifen lässt.
Dieses allmähliche Wachsen einer Nation aus gemeinsamen historischen Erfahrungen ähnelt dem europäischen Prozess der Nationenbildung im 18. und 19. Jahrhundert und ist die einzige dauerhafte Grundlage für Nationalität im Afrika des 21. Jahrhundert. Es bleibt zu hoffen, dass das 20. Jahrhundert mit seinen in Europa wie auch in Afrika vorgenommenen Massenvertreibungen, Völkermorden und „ethnischen Säuberungen“ sich als ein einmaliger Irrweg herausstellt.
DOMINIC JOHNSON
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