: Ärzte am Rand des Nervenzusammenbruchs
Die Zukunft der Arbeit (Teil 10): Da es um die Attraktivität ihres Berufs in Deutschland schlecht bestellt ist, wechseln viele junge Ärzte und Ärztinnen ins Ausland – oder werden lieber gleich Journalisten oder Kabarettist. Die Geschichte zweier eher verschlungener Laufbahnen von gelernten Medizinern
Gibt es eine Zukunft der Arbeit? Muss es überhaupt eine Zukunft der Arbeit geben? Und was bedeutet Arbeit eigentlich? Die nächste Folge unserer Serie zum Thema handelt vom Aussteigen aus dem Kulturbetrieb und dem erfüllten Kindertraum eines Schokoladekaufmannsladens
von GERRIT BARTELS
Fragt man N., wie viele Stellen er im Verlauf seines bisher neunjährigen Berufslebens als Arzt innehatte, muss er länger überlegen. Vielleicht 14 oder 15, vielleicht auch mehr, so genau kann er das nicht sagen. Allein seine anderthalb Jahre dauernde Arzt-im-Praktikum-Zeit Mitte der Neunzigerjahre verteilte sich auf drei Stellen – sechs Monate in einer Praxis, sechs auf einer Rettungsstation, sechs in einem Krankenhaus in London, alles Innere Medizin.
Einige andere Stationen weiß N. dann nur noch ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufzuzählen: ein halbes Jahr Vertretungsarzt im Süden von England, drei Monate in einer Suchtklinik in Wolfsburg, ein Jahr Innere Medizin in New York – N. hat auch die amerikanischen Medizin-Staatsexamen abgelegt –, jahrelang notärztliche Nachtdienste in einem Krankenhaus in Berlin-Steglitz, fünf Monate in Davos in einer auf Allergien und Asthmaerkrankungen spezialisierten Hochgebirgsklinik, dann wieder Assistent in einer allgemeinmedizinischen Praxis in Berlin.
Natürlich liegt der Hauptgrund für dieses Stellenhopping in der schlechten Arbeitsmarktsituation für Ärzte in den späten Neunzigerjahren. Doch auch N. selbst ist daran nicht ganz unschuldig: Nachdem er sein Examen gemacht hatte, sei für ihn klar gewesen, „sich nirgendwo ranzuschmeißen oder bei irgendjemand einzuschleimen. Ich hatte keine Lust, mir die miesen Arbeitsbedingungen einfach so diktieren zu lassen“. N. ging dorthin, wo es Arbeit gab, und wenn es nur für sechs Monate war, schmiss dann aber wieder, wenn ihm etwas nicht passte.
N.s Anspruch auf Selbstbestimmtheit aber, auf ein Mindestmaß an Selbstständigkeit, blieb nicht ohne Folgen. Mürbe gemacht durch häufige Ortswechsel, liebäugelte N. mit einer völligen beruflichen Veränderung. Er versuchte sich als Kabarettist, „dabei hätte ich beinahe meinen gesamten Freundeskreis verloren, so schlecht war das“, verdingte sich beim Fernsehen als medizinischer Berater von Serien wie „Herzschlag – Das Ärzteteam Nord“ und „Für alle Fälle Stefanie“ und schrieb Drehbücher für Sitcoms, die nicht genommen wurden.
N. spricht heute davon, bezüglich der Medizin „eher aus Versehen noch einmal die Kurve bekommen“ zu haben: private Scherereien, gesundheitliche Probleme, der Zwang, Geld zu verdienen. Mit seinen neun Fortbildungszeugnissen, diese Zahl kennt er sehr genau, hat N. vor kurzem seinen Facharzt für Allgemeinmedizin gemacht. Sein Geld verdient er im Moment mit Praxisvertretungen und Notarzt-Diensten, und demnächst eröffnet er eine allgemeinärztliche Praxis mit Akupunktur-Schwerpunkt in Schöneberg. „Der reinen Schulmedizin fehlt die Seele“, sagt N. „Es geht da nur noch um Krankheiten, aber schon lange nicht mehr um die Kunst des Heilens.“
Nun mag N. ein Extrembeispiel sein, seine ärztliche Laufbahn eine mehr als verschlungene. Trotzdem gibt seine Berufsgeschichte Hinweise darauf, wie es um die Attraktivität des Arztberufes bestellt ist: schlecht. Die Diskrepanz zwischen dem immer noch leidlich hohen Ansehen in der Bevölkerung und der Arbeitszufriedenheit innerhalb der Ärzteschaft ist groß. So stellte das Deutsche Ärzteblatt im Mai bei einer großen Umfrage unter Ärzten und Ärztinnen in Klinik und Praxis fest, dass die Hälfte mit ihren Arbeitsbedingungen mehr als unzufrieden seien und sich 35 Prozent nicht noch einmal für den Arztberuf entscheiden würde. Kein Wunder, dass auch die Zahl derjenigen Mediziner, die nach ihrem Studium den Arztberuf ergreifen, sinkt. So gibt es im Moment viele freie Stellen. Nach aktuellen Untersuchungen soll sogar jedes zweites Krankenhaus in Deutschland keine offenen Stellen mehr besetzen können, vor allem in den ländlichen Gebieten und dort insbesondere in Ostdeutschland.
Wer zum Beispiel in diesen Tagen die Arbeitsberatung der Berliner Ärztekammer aufsucht, egal ob er nun frisch von der Uni kommt oder nach mehreren Jahren Pause den Wiedereinstieg versucht, wird nicht mitleidig angeschaut, sondern bekommt eine lange Liste mit Brandenburger Krankenhäusern in die Hand, die freie Stellen haben. Tatsächlich ist der Run auf diese nicht besonders groß, wofür es viele Gründe gibt: schlechtes Arbeitsklima, oft noch alte DDR-Strukturen, starre Hierarchien, hohe Fluktuation, Ungleichgewicht zwischen der Anzahl von alten und jungen Ärzten, viel Überstunden wegen zu wenig Personal, haufenweise Nachtdienste, eine schlechtere Bezahlung als im Westen etc.
Dazu kommt, dass viele MedizinstudentInnen und junge ÄrztInnen sich anderweitig umgeschaut haben – entweder sie sind ins Ausland gegangen oder sie arbeiten in nichtkurativen Gebieten der Medizin: im medizinischen Projektmanagment, in der pharmazeutischen Industrie, in Öffentlichkeitsarbeit und Medizin-Journalismus. Es soll sogar Mediziner geben, die Kulturredakteure geworden sind.
Auch R. ist so ein Fall eines vom klassischen Werdegang abgekommenen Mediziners. Wie N. Mitte der Neunziger mit dem Studium fertig, schlug er sich die nächsten Jahre von Stelle zu Stelle, wenn auch ausschließlich in Berlin: AIP in der Neurologie, drei Jahre Neuroradiologie in der Charité, erst auf einer halben, dann auf einer Dreiviertelstelle, immer von Jahr zu Jahr und finanziert durch Drittmittel. Es folgte für ihn eine Schwangerschaftsvertretung in der Psychiatrie des Neuköllner Krankenhauses, schließlich eine ebenfalls befristete Neurologiestelle, wiederum in einem anderen Berliner Krankenhaus. „Tatsächlich habe ich den Facharzt für Neuroradiologie angestrebt“, sagt R., „dafür hätte ich aber in der Charité auch auf eine ganz normale radiologische Abteilung rotieren und zum Beispiel über Lungenaufnahmen befinden müssen, 6.000 Stück. Das ging dort aber nicht.“
Die große Krise bekam R. bei seiner letzten Stelle, insbesondere wegen dem dort herrschenden Arbeitsklima, das bis zum Mobbing ging. R., ein friedliebender und nicht so schnell aus der Ruhe zu bringender Mittdreißiger, bekennt, hier erstmals Mordfantasien gehabt zu haben – zumindest sei er kurz davor gewesen, sich mit seinem Oberarzt zu prügeln. Doch „auch zu den Patienten war ich während der Nachtdienste nicht mehr freundlich. Ich habe die angeschrien, warum sie ausgerechnet jetzt kommen müssten wegen so einem Scheiß. Ich wollte nur noch raus.“
Inzwischen hat er eine unbefristete Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralinstitut der medizinischen Versorgung der Kassenärzte und betreut dort ein EU-Projekt zur Homologisierung der europäischen Krankenversichertenkarten – das klingt bürokratisch und unglamourös, da schütteln gerade auch Nichtmediziner den Kopf, wenn sie das hören: Du bist doch Arzt, du hast doch Medizin studiert! Warum machst du denn so was!
Doch auch die Hauptarbeit eines Assistenzarztes im Krankenhaus besteht in drögester Verwaltungsarbeit: Aufnahmebögen schreiben, Anordnungen schriftlich festlegen, Krankenakten führen, den Krankenkassen Mitteilungen machen, damit diese oder jene Behandlung weiter bewilligt wird, Arztbriefe schreiben und Ähnliches. Die Versorgung der Patienten macht nur einen geringen Teil der ärztlichen Arbeit aus.
Nun hat auch R. sich, als er einst mit seinem Medizinstudium begann, was anderes vorgestellt, als dafür zu sorgen, dass man bald mit seiner AOK-Chipkarte in Frankreich zum Arzt gehen kann. In einem Krankenhaus aber möchte er so schnell nicht mehr arbeiten – schon gar nicht „nachts in einem weißen Kittel den Depp machen“.
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