: Heilige Kühe, glücklose Katholiken
Den Stoff für zwei Bücher hat die Bremer Edition Temmen jetzt in eins gepackt. Die Folgen sind fatal: Nach der Lektüre des Reise-Lesebuchs ,,Grenzenlos an Deich und Dollart“ ist der bloße Wochenendtrip kaum noch vorstellbar. So neugierig macht das Buch
Früher war alles einfach. Über Ostfriesen erzählte man sich Witze, die von Einfältigkeit, Kühen und Deichen handelten. Schon knapp südlich von Osnabrück wusste kaum noch jemand, wo dieses Witzeland überhaupt lag. Allenfalls im näheren Umkreis war bekannt, dass in Ostfriesland die Arbeitslosigkeit hoch, der Wind rau und der Regen häufig sind. Nur Gestalten wie Otto Waalkes machten über den 100-Kilometer-Radius hinaus Schlagzeilen. Das war‘s.
Damit ist nun Schluss. Seit vor zwei Wochen die Edition Temmen das reich bebilderte Reise- und Lesebuch „Grenzenlos an Deich und Dollart“ herausgegeben hat, kann sich niemand mehr dumm stellen: 18 regional bewanderte AutorInnen stopfen auf 311 Seiten manche Wissenslücke. Zugleich machen sie kolossal neugierig auf eine Region, die selbst sympathisierende Wind-und-Wetter-Freaks bislang überwiegend als flache Radfahrstrecke, als Abfahrthafen auf die Inseln oder Durchquerung auf dem Weg nach Groningen und Amsterdam wahrgenommen haben – na gut, das Henri-Nannen-Museum und manchen Kirchenbau vielleicht ausgenommen.
Den ahnungslosen Reisenden, der nur mal eben ein Wochenende an der Küste geplant hatte, könnte die Buchfülle mit Informationen über Städte, geschichte und Ausflüge und Tipps zum Weiterlesen schwindelig machen – oder zum Wiederkommen verleiten. Vielleicht um auf den Spuren der Mönche Emos und Menkos zu wandeln, die vor 700 Jahren wohl dokumentierte Wanderungen unternahmen. Vielleicht auch nur, um nach Blaukehlchen Ausschau zu halten, die sich an der Küste ganz gegen den bedrohlichen Trend wieder erfolgreich vermehren. Oder um den Abbau der Torfmoore zu beobachten und dabei an den Gedenkstätten, beispielsweise des ehemaligen KZ Esterwegen, Halt zu machen. Was heute kaum jemand weiß: Im Emsland entstanden 1933 die ersten großen Konzentrationslager Deutschlands.
Die Bandbreite von Themen, die die AutorInnen und der Herausgeber und Journalist Thomas Schumacher für dieses erste grenzüberschreitende Buch bearbeitet haben, macht es lesenswert. Die „ostfriesische Teezeremonie“ hat ihren Platz darin ebenso wie die Lage in der Hafen- und Fischwirtschaft und niederländische Ausflugsziele. Heilige Kühe und katholische Missionsversuche kommen vor, wie auch jüdisches Leben auf beiden Seiten der deutsch-holländischen Grenze.
Ach was – mit Holland, dieser kleinen Provinz, die im heutigen Grenzgebiet zu Belgien liegt, hat das alles nichts zu tun, helfen uns die AutorInnen ganz nebenbei, die größten Fettnäpfchen im Nachbarland zu vermeiden. Wie überhaupt mancher lebenspraktische Tipp vor Enttäuschungen schützt, die gerade im Urlaub besonders schmerzen: Erwarte in Groningen zum „Lunch“ niemand ein reichhaltiges Tellergericht wie bei Muttern zu Hause. Dort kommen frittierte Röllchen in Brot auf den Tisch – und angesichts deutscher Essgewohnheiten allenfalls die Frage, wie man nach schweren Mahlzeiten noch arbeiten kann? Der Niederländer „isst um zu arbeiten“, heißt es nebenbei. Und dass dem Nachbarn die deutschen Ladenöffnungszeiten ein ewiges Rätsel waren. Preisfrage: „Wollen die Deutschen denn kein Geld verdienen?“ Die Deutschen ihrerseits stellen bis heute die „Gardinenfrage“ – auf die das Buch eine von mehreren möglichen Antworten gibt, die hier nicht verraten sei.
Der humorige Unterton des Buches – die Stilisierung des Deichs zum achten Weltwunder beispielsweise, zum „goldenen Ring“, der als Schutzwall gegen das Meer länger als die chinesische Mauer wurde – hilft beim Verdauen von viel geballter Information, die auch Technisches wie das umstrittene Emssperrwerk oder europäische Naturschutzstreitereien betrifft. Oder den Hightech-Arbeitgeber VW, der in Emden 15.000 von insgesamt 28.000 Industriebeschäftigen in ganz Ostfriesland unter Vertrag hat. Je nach Konjunktur mit Folgen bis in die letzten Winkel der Region.
Gibt es Kurzarbeit, schrumpfen in Ostfriesland die Fischbestände so drastisch, dass die Fischereiverbände sich sorgen: Der Kormoran nehme Überhand. Eine lustige Anekdote, die man ähnlich wohl aus X deutschen Regionen erzählen könnte. Also kein Ostfriesenwitz!
Eva Rhode
„Grenzenlos an Deich und Dollart“, Hrsg. Thomas Schumacher, Edition Temmen, 16 Euro 90
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