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Die Wohnsimulation

Das Cohn’sche Viertel in Hennigsdorf ist technisch zur Stadt für Telearbeit fit gemacht worden. Bisher wollen seine Bewohner – zum Beispiel das Ehepaar Hesse – hier aber weniger arbeiten als alt werden

VON KOLJA MENSING

In Hennigsdorf liegen Wohnen und Arbeiten nahe beieinander. Bereits im Jahr 1910 begann die AEG in dem bis dahin landwirtschaftlich geprägten Ort im Nordwesten Berlins mit dem Bau von Werksiedlungen. Immer mehr Menschen kamen, um in den Porzellanfabriken und Walzwerken zu arbeiten, um Lokomotiven und Flugzeuge zu bauen, und der Architekt Peter Behrens entwarf ihnen zwischen 1911 und 1918 weitere schmucklose Bauten. Innerhalb eines Jahrzehnts war Hennigsdorf im industriellen Kapitalismus angekommen.

Die Nachfrage nach Bauland stieg. 1932 schlossen auch die Erben des jüdischen Zeitungsverlegers Emil Cohn mit der Stadt Hennigsdorf einen „Aufschließungsvertrag“ über ihren Besitz an der Nauener Straße, nur um wenige Jahre später von den Nationalsozialisten enteignet zu werden. 700 Wohnungen sollten entstehen, denn die Rüstungsproduktion hatte die Fabriken der AEG weiter wachsen lassen. Nur ein Teil der Planungen wurde verwirklicht, erst 1953 kamen die nächsten Bautrupps. Sie sollten eine sozialistische Utopie verwirklichen, die sich von der kapitalistischen Arbeits-, Wohn- und Lebensgemeinschaft, von der der AEG-Gründer Emil Rathenau geträumt hatte, nicht sonderlich unterschieden: eine proletarische Werksiedlung mit Kindergarten, Schule, Poliklinik.

Der Traum einer idealen Arbeiterstadt scheiterte. Geld und Baumaterial waren knapp, architektonische Visionen fehlten ganz. Die sozialistische Werksiedlung für den AEG-Nachfolgebetrieb „VEB Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke“ (LEW) setzte mit ihren historisierenden Fassaden die dreigeschossige Einfallslosigkeit der nationalsozialistischen Planer fort. Hier wohnte man, weil einem nichts anderes übrig blieb.

Hennigsdorf im Jahre 2004. Heute trägt die ehemalige Werksiedlung den Namen Cohn’sches Viertel. Hinter den frisch renovierten Arbeiterhäusern liegen Spielplätze, ein kleiner Bach führt durch gepflegte Rasenflächen. Knapp 250 Wohnungen hat die Hennigsdorfer Wohnungsbaugesellschaft hier in den letzten Jahren saniert – und zum Teil neu geschaffen. Am Eingang der Siedlung zum Beispiel steht das so genannte Solarhaus, das auf den ersten Blick den zweckrationalen Arbeiterhäusern gleicht, die Peter Behrens vor fast hundert Jahren entworfen hat. Grauer Gasbeton bestimmt die Fassade, der einzige Schmuck besteht aus einer Feuertreppe und den Solarzellen auf dem Dach, die Teil eines richtungweisenden Pilotprojekts sind: 80 Tonnen Kohlendioxid werden in der Siedlung jedes Jahr eingespart, und nicht nur deshalb ist man hier der Zukunft des Wohnens so nahe wie noch nie. Im Cohn’schen Viertel läuft die Zeit schneller als anderswo.

Im dritten Stock des Solarhauses kann man es sogar hören. Renate und Rüdiger Hesse, die vor zwei Jahren in die Nauener Straße 7 gezogen sind, sammeln alte Uhren. Die Geräusche der zahllosen Zeitautomaten verdichten sich in ihrem Wohnzimmer und liefern den Soundtrack zum smart housing des 21. Jahrhunderts. Jedes Haus im Cohn’schen Viertel ist mit einem Bus-System ausgerüstet, das sämtliche elektrischen Geräte miteinander vernetzt und die Wohnungen zu Computern macht, die über eine so genannte Technik-Box gesteuert werden. Von einem kleinen Touchscreen neben der Wohnungstür aus werden Beleuchtung, Heizung und Alarmanlage gesteuert, E-Mails lassen sich abfragen, und auf Knopfdruck bekommt man die Fotos zu sehen, die die Kamera am Hauseingang von jedem Besucher knipst.

Es dauerte etwas, bis sich die Hesses, die beide über sechzig Jahre alt sind, durch das Handbuch gearbeitet hatten: „Am Anfang hat die Technik-Box den Gefrierschrank abgetaut, während wir einkaufen waren.“ Inzwischen haben die beiden keine Angst mehr, dass die Wohnung in ihrer Abwesenheit verrückt spielt, sondern aktivieren während ihrer Urlaubsreisen ganz selbstverständlich die „Wohnsimulation“, die mit unregelmäßigen Ein- und Ausschalten der Zimmerbeleuchtung Einbrecher abschrecken soll. Ansonsten nutzen sie das Display in ihrer Wohnung um sich über das Wetter und die Sonderangebote bei Aldi und Lidl zu informieren.

Bis vor kurzem waren es die günstigen Verkehrsverbindungen, die Hennigsdorf zu einem bevorzugten Wohnort im nordwestlichen „Verflechtungsraum“ Berlins gemacht haben. Bequeme Autobahnanschlüsse, gute Taktzahlen beim öffentlichen Nahverkehr, und der Flughafen Tegel ist nur einen Katzensprung entfernt: Mitte der Neunzigerjahre war die Stadt mit ihren 25.000 Einwohnern das Vorzeigebeispiel für attraktives Wohnen im Berliner Umland. Es gab sogar Arbeitsplätze. Die AEG hatte das LEW nach der Wende wieder übernommen, weitere Betriebe siedelten sich an, und als 1995 der Grundstein für ein Biotechnologiezentrum gelegt wurde, sah es ganz so aus, als ob Hennigsdorf mehr als nur eine verkehrsgünstig gelegene Schlafstadt werden könnte.

Gleichzeitig gab es in den Neunzigerjahren zahllose Studien, die den Pendler von morgen nicht mehr auf der Autobahn, sondern auf dem Datenhighway verorteten. Als die Hennigsdorfer Wohnungsbaugesellschaft mit der Sanierung des nach der Wende völlig heruntergekommenen Cohn’schen Viertels begann, schloss sie darum sämtliche Häuser an ein Breitbandkabelnetz an, das Daten vierzig- bis achtzigmal schneller transportieren kann als eine DSL-Leitung. Damit wurde nicht nur der Weg in ein Multimediafreizeitparadies mit digitalem Fernsehen und Cinema-on-Demand geebnet, sondern vor allem die Voraussetzung für Telearbeit geschaffen. Vielleicht könnte das Cohn’sche Viertel mit seinen virtuellen Arbeitsplätzen im Wohn- oder Schlafzimmer zuletzt doch noch das hundert Jahre alten Versprechen von der Einheit aus Wohnen und Arbeiten erfüllen: als Werksiedlung ohne Werk.

Bisher sieht es allerdings nicht so aus. Das Ehepaar Hesse zum Beispiel hat keinen Computer. Die beiden sind Rentner, und wie viele ihrer Nachbarn sind sie nicht ins Cohn’sche Viertel gezogen, um hier zu arbeiten, sondern um hier alt zu werden. Den Plattenbau, in dem sie über dreißig Jahre lang gewohnt haben, können sie von ihrem Balkon aus sehen. Irgendwann einmal war das erste Wohnlage, vier Zimmer, schöner Ausblick – aber dann wurde auch mit der Sanierung im Jahre 1995 kein Fahrstuhl eingebaut: „Ich trage die Bierkästen nicht mehr“, hatte Renate Hesse gesagt. Kurz darauf sind sie ins Solarhaus gezogen.

Für nicht wenige Bewohner ist Arbeit nur noch eine Erinnerung an alte Zeiten. Das Cohn’sche Viertel ist auf dem besten Weg, sich von einem Lagerplatz für die Jobnomaden des Internetzeitalters zu einer komfortabel ausgerüsteten Seniorenwohnanlage zu entwickeln. Auch das ist eine Utopie: „Mit uns können Sie alt werden“ lautet der Slogan, mit dem die Hennigsdorfer Wohnungsbaugesellschaft heute nach neuen Mietern sucht und dabei dezent auf die Sozialstation in der Nauener Straße verweist, in der der Pflegedienst bettlägerige Patienten bei Bedarf per Webcam und Monitor überwachen können. In der ehemaligen Stahlwerksiedlung in Hennigsdorf ist man bestens vorbereitet auf eine Gesellschaft, die immer älter wird. So nah war man der Zukunft noch nie.

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