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Der Schatten der Hand

Zu Gast bei einem Neuropsychologen

von GABRIELE GOETTLE

Lutz Jäncke, Prof. Dr. rer. nat., Inhaber d. Lehrstuhls f. Neuropsychologie a. d. Universität Zürich. 1964–1967 Besuch d. Volksschule i. d. Hügelstraße i. Wuppertal. 1967–1977 Humanistisches Gymnasium a. d. Siegesstraße i. Wuppertal-Barmen. 1977 Abitur. 1977 bis 1978 Wehrdienst. 1978 Entschluss, den erfolgreich betriebenen Leistungssport (Wasserball) zugunsten d. Wissenschaft zurückzustellen. 1978/79 Forts. d. Psychologiestudiums a. d. TU Braunschweig. 1981–1984 Forts. d. Psychologiestudiums a. d. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 1984 Diplom i. Fach Psychologie (Gesamtnote: sehr gut). 1980–1990, n. Ausscheiden aus seinem Bundesligateam Trainertätigkeit i. versch. Wassersportvereinen z. Gelderwerb fürs Studium. 1984–1990 wissenschaftlicher Angestellter a. Institut f. Allgemeine Psychologie a. d. Heinrich-Heine-Univ. Düsseldorf. 1989 Dissertation daselbst z. Thema: Die Bedeutung der auditiven Rückmeldung des eigenen Sprechens für die Kontrolle der Phonationsdauer (Gesamtnote: magna cum laude). 1990–1996 Hochschulassistent a. Inst. f. Allgem. Psychologie. 1995 Forschungsaufenthalt a. Beth Israel Hospital a. d. Harvard Medical School Boston/USA. 1995 Habilitation i. Fach Psychologie a. d. mathematisch-naturwissensch. Fakultät d. Heinrich-Heine-Univ. z. Thema: Funktionelle und anatomische Hemisphärenasymmetrien. 1995 Forschungsaufenthalt a. Beth Israel Hospital. 1996/97 Senior Researcher a. Forschungszentrum Jülich u. Heisenberg-Stipendiat d. Deutschen Forschungsgemeinschaft daselbst. 1997 Preis f. d. beste Habilitation a. d. mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät d. Heinrich-Heine-Universität. 1997–2002 Inhaber d. Lehrstuhls f. Allgemeine Psychologie a. d. Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ab April 2002 Inhaber d. Lehrstuhls f. Neuropsychologie a. d. Universität Zürich. Verfasser zahlreicher Buch- und Zeitschriftenbeiträge, u. a. in: Science, 267 (5198), 1995, „In vivo evidence of structural brain asymmetry in musicians“, Nature Neuroscience Reviews, 3, 2002, „The musicians brain as a model for neuroplasticity“; „Hirnanatomische Asymmetrien und ihre Bedeutung für funktionale Asymmetrien“, i. H. O. Karnath & P. Thier (Eds), „Lehrbuch für Neuropsychologie“, 2001, Springer Verlag. Mitglied i. div. Berufsverbänden u. wiss. Vereinigungen, u. a.: Gesellschaft f. Neuropsychologie (GNP); International Association of Clinical Linguistics (IACL); The New York Academy of Science, Zahlreiche Gutachterarbeiten f. wissensch. Zeitschriften, f. div. Organisationen und Gerichte. Lutz Jäncke wurde am 16. 7. 1957 als Sohn eines Polizeibeamten i. Wuppertal geboren. Er ist m. d. Diplompsychologin Petra Jäncke verheiratet und hat zwei Söhne.

Das Institut für Neuropsychologie befindet sich im östlich vom See gelegenen Teil Zürichs, sechs Straßenbahnhaltestellen vom Bahnhof entfernt. Wer zu Fuß geht, steigt vom Hottinger Platz aus die Dolderstraße hinauf, vorbei an hell verputzten bürgerlichen Mietshäusern aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, denen man ihr Alter kaum ansieht. In den ehemaligen Läden der Eckhäuser haben sich Künstler und Bürogemeinschaften eingemietet. Das Institut ist in einer Seitenstraße und teilt sich mit verschiedenen anderen Einrichtungen einen modernen Zweckbau. Im Obergeschoss riecht alles noch neu. Die Institutsgründung liegt grade mal ein Jahr zurück. Nach einiger Zeit erscheint federnden Schrittes Herr Prof. Jäncke, bestellt bei seiner freundlichen Sekretärin Kaffee und bittet uns – dynamisch voraneilend – in seinen Arbeitsraum. Erfreut registriert er unser Interesse an drei gerahmten Bildern, die, den Raum dominierend, fast wie ein Triptychon an der Stirnwand hängen. Sie stammen unverkennbar von Kinderhand, zeigen ein Krokodil, eine Gottesanbeterin und einen Adler, der grade einen Hasen schlägt. Gemalt hat sie der ältere Sohn. Reptil, Insekt und Vogel sind mit sicherer Hand und klaren Farben ins große Format gesetzt. Herr Prof. Jäncke blickt diskret auf die Uhr und beginnt dann, uns von seiner Arbeit zu erzählen:

„Also die Neuropsychologie ist die Wissenschaft, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Gehirn und Verhalten auseinander setzt. Das kann man auf verschiedene Art und Weise machen, indem man sich zum Beispiel mit Menschen befasst, die Hirnschäden haben, und sich die psychischen Auffälligkeiten anguckt oder indem man mit bestimmten Methoden arbeitet, die es erlauben, die Funktionen des Gehirns genauer zu erforschen. Dabei kann man auch mit gesunden Leuten arbeiten, das mache ich insbesondere, und da habe ich als Methode zum Beispiel die Kernspintomographie, mit der ich arbeite, auch die Transkranielle Magnetstimulation – ich komme noch genauer darauf zurück – wird eingesetzt, und wir beschäftigen uns in angewandter Form auch mit der so genannten virtuellen Realität. Was sich als roter Faden so durchzieht, ist die Plastizität des Gehirns. Also zu verstehen, wie kann das Gehirn bestimmte Sachen lernen, und da benutzen wir als Modell Profimusiker und untersuchen, was bei denen jetzt alles anders ist im Gehirn, hat das was zu tun mit Training, mit Begabung. Die Gehirne von Musikern sind hervorragend geeignet, um die Plastizität zu studieren, denn viele der Profis fingen schon in der Kindheit an und üben oft viele Stunden am Tag das ganze Leben lang. Das beeinflusst die Gehirnpartien, die an der Fingerfertigkeit, der Geschicklichkeit der Hand, beteiligt sind. Also wir machen Bilder von Musikergehirnen, messen Hirnstrukturen aus … Das sind eben die Sachen, die für uns wichtig sind.“ Er lehnt sich zurück und fährt fort:

„Inzwischen haben wir ja schon einen solchen Ruf, dass die Musiker fast von sich aus kommen. Gerade hatte ich einen interessanten Fall. Ein berühmter Pianist, Russe, hatte vor zwei Jahren ein seltsames Erlebnis. Er sah in einem Museum in Brüssel ein Klavier mit einer umgedrehten Tastatur für Linkshänder, also die hohen Töne liegen auf der linken Seite. Er, der eigentlich Linkshänder ist, aber bis zum Alter von 36 Jahren ein ganz normales Klavier benutzte, setzt sich davor und kann spielen! Er war sehr fasziniert und wusste, das ist besser für ihn. Heute gibt er berühmte Konzerte auf einem solch umgedrehten Klavier, er hat natürlich etwas üben müssen, ist aber absolut auf dem hohen Level wie zuvor. Er ist der festen Überzeugung – auch andere sind es –, dass er anders und besser spielt. Er kommt demnächst hierher, und wir werden Versuche machen, uns angucken, was bei ihm anders ist im Gehirn, wie sind die Hände lokalisiert usw. Und das, was bei den Musikern letzten Endes als Grundlageninformation rauskommt, dient uns dann als Modell des Umsetzens für Rehamaßnahmen. Plastizität, jetzt als Oberbegriff genommen, für alles das, was sich im Gehirn verändert – das können Verbindungen sein, Strukturen, die größer oder kleiner werden, verschwinden oder was auch immer – und diese kann man auslösen durch diverse Prozesse, durch externe Stimulation, das Üben, durch bestimmte Trainingsmaßnahmen. Also die Art und Weise dieser Trainingsmaßnahmen führt zu Veränderungen in bestimmten Gehirngebieten. Und das ist es, um was es hier geht, zum Beipsiel haben 60 Prozent aller Schlaganfälle mit motorischen Lähmungserscheinungen zu tun, und wir möchten, dass unsere Patienten hinterher wieder ihre Finger bewegen können. Eine der Fragen ist, welches Training mache ich, und die Antworten müssen wir eben ableiten aus unseren Befunden.“

Nach einer kleinen Pause sagt er: „Ja, also die kognitive Neurowissenschaft ist eigentlich ein sehr modernes Forschungsgebiet, das immer noch sehr viel erbringt, einerseits für die Grundlagenforschung und andererseits aber auch für klinische Anwendungen. Das ist ja der erste Ordinarienlehrstuhl für Neuropsychologie in der Schweiz, und ich versuche ihn so zu gestalten, dass er eben den klassischen und neuen Anforderungen, so wie sie sich ergeben in der kognitiven Neurowissenschaft und der Neuropsychologie, gerecht wird, also ich definiere ihn entsprechend meinen Einschätzungen und will die Studenten auch diesbezüglich ausbilden. Das bedeutet, sie machen bei mir auch die klassische neuropsychologische Ausbildung, was ja eine klinische ist, aber jetzt – anders als sonst – auf der Basis moderner kognitiver Neurowissenschaft. Denn man sieht ja ganz schnell, dass klassische Neuropsychologie im Grunde genommen in vielen Punkten überholt wird von der kognitiven Neurowissenschaft und klinische Bilder nun auch anders interpretiert werden müssen. Und weil Sie mich vorhin in Bezug auf die Erforschung des Verhaltens sehr apodiktisch gefragt haben, wie ich mich gegenüber der Psychoanalyse abgrenze, will ich Folgendes sagen. Man müsste grade andersherum fragen: Wie grenzt sich die Analyse ab?! Weil das ja eigentlich eine Außenseitergeschichte ist, im Wesentlichen. Also man muss sagen, wissenschaftlich gesehen ist die Analyse im Grunde genommen völlig überholt. Sie ist keine Wissenschaft aus unserer Sicht. Zwar denken viele, die Neurowissenschaften würden die Psychoanalyse bestätigen, das ist aber ein Irrtum. Also ich persönlich sehe das folgendermaßen und dergestalt, dass sicherlich die Neurowissenschaften sich auch mit solchen Phänomenen auseinander setzen, wie es die Psychoanalyse tut, aber die Psychoanalyse hat das alles ‚belegt‘, ‚besetzt‘ mit bestimmten Konzepten, und diese Konzepte haben sich zu einem Perpetuum mobile entwickelt.

Das heißt, wenn ich das ‚Unbewusste‘ in der Neurowissenschaft anerkenne und nachweise, so bestätige ich doch damit nicht gleichzeitig das ganze gedankliche Gebäude, das die Psychoanalyse entwickelt hat! Davon abgesehen, ist der Sigmund Freud, würd ich mal sagen, sicherlich eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der Neuzeit, ein scharfsinniger und origineller Denker … Und er hat ja auch immer wieder betont, dass alles davon abhängt, was die Biologie hinterher für Erkenntnisse bringt. Wenn Sie seine Schriften mal durchlesen, sehen Sie, er ist ja eigentlich Biologe, Neurobiologe, hat zum Beispiel einen schönen Artikel zur Apraxie geschrieben – über die Unfähigkeit, sich zu bewegen. Also ich bin sowieso überzeugt, wenn Sigmund Freud heute leben würde, der wäre keine Analytiker. Mit Sicherheit nicht, der wäre so was wie wir hier. Mit 100 Prozent Sicherheit!“

Herr Prof. Jäncke schiebt entschlossen die leere Kaffeetasse zur Seite und fährt in verbindlichem Tonfall fort: „Also fassen wir mal zusammen, sagen wir’s mal so: Die Neurowissenschaft nähert sich diesen Gebieten, die eigentlich der Analyse und auch der Philosophie vorbehalten waren, mit großen Schritten: Bewusstsein, Unbewusstes, Bewusstes, Selbstwahrnehmung, Identität, Halluzination, gespaltenes Bewusstsein zählen zu unseren Forschungsgegenständen. Das Interesse der Öffentlichkeit ist natürlich ungeheuer groß. Jeden interessiert ja: Wo komme ich her, was mache ich, warum bin ich so, warum denke ich so? und so weiter. Innerhalb der Fachdisziplin ist es mittlerweile so, dass die Philosophie, die eigentlich dieses Gebiet besetzt hatte – Philosophie des Geistes ist eine eigene Disziplin –, sehr heftig reagiert. Und zwar auf zwei Arten. Die eine Art ist die, sich den Neurowissenschaften stark anzunähern, damit ist natürlich die Gefahr verbunden, sich selbst aufzulösen.

Der andere Teil der Philosophie des Geistes versucht mit Macht die alten Konzepte zu verteidigen. Interessant an dieser Auseinandersetzung ist, dass sie in der Philosophie stattfindet und die Philosophen jeweils die Argumente der Neurowissenschaftler übernehmen und sie gegeneinander als Gegenargumente verwenden. Und im Grunde ist es doch so, die neuesten Befunde und Argumente kommen aus der Neurowissenschaft, eindeutig! Es gibt fantastische Ergebnisse, faszinierend für die Erkenntnis der Bewusstseinsforschung. Aus der Philosophie kommen eben nur schlaue Argumente, aber keine Befunde. Aber auch in unseren eigenen Reihen gibt es bestimmte Ressentiments im Bereich der Hardcore-Neurowissenschaftler, die sich natürlich lieber mit Molekülen, mit chemischen Sachen auseinander setzen, die wollen von unserem ganzen Kram nichts wissen. Aber die sind in der Community der Neurowissenschaftler eine Minderheit. Man kommt ja einfach nicht darum herum, dass viele klinische Probleme mit Bewusstseinsproblemen verbunden sind. Wir haben Patienten, die machen sich nicht klar, dass sie zum Beispiel rechts ein Bein und einen Arm haben. Das, was da an ihnen herumschwankt, das ist ihnen fremd. Es gibt ein Depersonalisationssyndrom, bei dem der Körper nicht mehr als eigener Körper empfunden wird. Oder sie haben das Problem der ‚fremden Hand‘, wo der Betroffene plötzlich gar nicht mehr weiß, woher die kommt und was das ist. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt von den Problemen, mit denen man es in der Klinik zu tun bekommt …“

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelt. Während eines längeren Fachgesprächs mit einem Kollegen betrachtet Prof. Jäncke einige Gehirnschichtaufnahmen auf dem Computerbildschirm. Während wir nach Beendigung des Telefonats unser Gespräch wieder aufnehmen, zeigt der Bildschirmschoner abwechselnd private Familienszenen und Bilder von Gehirnen. „Aber ich wollte noch auf einen Punkt zurückkommen, der für uns Neuro-Leute und Gehirnforscher sehr interessant ist. Unser Gehirn schafft es, uns durch die Welt zu transportieren, ohne dass wir ein Bewusstsein brauchen. Wir brauchen nur für bestimmte Sachen Bewusstsein, und wahrscheinlich ist es so, dass wir vielleicht nur für zehn Prozent der wichtigen Sachen überhaupt ein Bewusstsein brauchen, alles andere macht das Gehirn von allein … Denn wenn das so wäre, dass wir das Bewusstsein brauchten, um unsere Handlungen zu kontrollieren, dann würde das ja bedeuten, dass alle unsere Handlungen irgendwann mal durch unser Bewusstsein gelaufen wären. Ich schätze sogar – und da bin ich nicht allein –, dass von dem kleinen Teil, der bewusst ist, viele Sachen uns erst im Nachhinein bewusst werden. Aber auch das ist von Fall zu Fall verschieden, beim einen mehr, beim anderen weniger. Zum Stichwort ‚weniger‘, da fällt mir ein, ich habe gestern einen Film gesehen über diese ganzen Jugendlichen im Osten, die jetzt die andern verprügeln, quälen und umbringen, einfach so. Ich war ja fünf Jahre Professor in Magdeburg, kenne diese Klientel, das ist alles die gleiche Variante von Personen – ob nun Skinheads oder nicht. Und meine Erfahrung bezieht sich da nicht auf das, was man so in den Medien hört, sondern ich habe als Gutachter gewirkt, ich habe die ja untersucht. Habe richtige psychologische Diagnostik gemacht mit denen, alle möglichen Tests.

Wenn Sie von denen was hören über den Tathergang, dann werden Sie kaum was erfahren, Erinnerung ist nur noch in Fragmenten vorhanden, das Bewusstsein für die Tat selbst fehlt völlig. Die bringen Menschen um und sind sich dessen gar nicht bewusst. Viele von denen sind klassische Soziopathen nach unserer Definition. Wir zeigen ihnen Bilder von Leichen zum Beispiel und messen den Hautwiderstand. Bei jedem Menschen geht in der Regel, wenn er eine verstümmelte Kinderleiche sieht, der Hautwiderstand hoch und dann wieder runter – bei den Hartgesottenen geht er etwas schneller wieder runter – aber bei denen, da tut sich gar nichts, kommt gar nichts an! Wir wissen auch mittlerweile so ein bisschen, womit das zusammenhängt. Das ist übrigens auch so eine Sache, die uns sehr interessiert, der orbitofrontale Cortex“, er zeigt auf seine Stirn, „hier unten drunter, über den Augen. Und das ist halt das Tor zur Realität, Sigmund Freud würde sagen, das Ich … Da wird also das limbische System, das Emotionszentrum, gekoppelt an die Realität, da werden alle Reize gekoppelt mit Emotionen. Bei diesen Straftätern scheint irgendwo ein Mangel zu existieren … in der Verbindung der Realität mit der Emotion. Sie können deshalb nie aus Konsequenzen lernen, sie können die Konsequenzen gar nicht mehr ziehen, weil dieses Tor zum Ich … zur Realität nicht mehr effizient funktioniert.

Das war aber nur eine Nebentätigkeit gewesen, in Magdeburg gab’s ja wenige Psychologen, und wenn man mal angefangen hat mit den Gutachten, ist man schon in der Mühle drin … Also mein originäres Arbeitsgebiet ist ja die Plastizität des Gehirns, und als Modell untersuche ich, wie gesagt, vor allem Musiker. Das ist mein Hauptthema. Ich bin jetzt seit 1993 damit beschäftigt, zehn Jahre. Schon damals habe ich begonnen, mich auf hoch spezialisierte Supermusiker zu konzentrieren, die kenne ich mittlerweile gut – die rufen mich aus dem Ausland an, sagen, ich bin jetzt irgendwann in der Nähe, falls du mich brauchst.

Das ist das eine, dann gibt es natürlich auch eine Reihe von Leuten, die Probleme haben, zum Beispiel geht das seit neuestem wieder los mit den Dystonien, seit sich herumspricht, dass man auch was dran machen kann – der Thomas Elbert hat gerade die erste Publikation darüber gemacht. Die ‚fokale Dystonie‘ ist ein Phänomen, das sehr leidvoll ist, besonders für Pianisten. Wenn sie spielen, dann können sie ihre einzelnen Finger nicht mehr bewegen, da werden immer Mitbewegungen gestartet, die hemmen dann das Spiel natürlich entscheidend. Man kann’s als Betroffener weder verbergen noch verbessern, und früher haben sich die Leute umgebracht oder das Spielen aufgegeben. Robert Schumann hatte es auch. Er hörte auf, Klavier zu spielen, und hat dann nur noch komponiert – welch ein Glück, denn er war ein besserer Kompositeur. Der erste historische Bericht über die Störung – auch Musikerkrampf genannt – stammt übrigens von 1830, aus den Tagebüchern von Schumann. Der Grund für dieses Problem ist die Repräsentation der einzelnen Finger im Gehirn, die sich durch das massive Training vergrößert hat, das heißt, die überlappenden Gebiete sind so groß geworden, dass die einzelnen Finger nicht mehr eindeutig repräsentiert sind. Es gibt eben durch das exzessive Training eine Vergrößerung der Gesamtrepräsentation der Hand … Aber das geht natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Sie müssen sich das so vorstellen: Dass diese Repräsentationsgebiete sich nicht weiter vergrößern können, liegt einfach daran, dass in der Nachbarschaft der Hand wichtige Gebiete liegen, zum Beispiel das Gesicht.“ Er demonstriert es mit beiden Händen an seinem Schädel, „die Hand liegt hier etwa, das Gesicht ist genau drunter, obendrauf ist das Bein, der Fuß. Das Gesicht hat riesig Platz, es hat genauso eine große Repräsentation wie die Hand, acht- bis zehnmal so groß wie der Fuß und das Bein. Die Mimik ist ein ganz wichtiger Bereich nonverbaler Kommunikation, wir brauchen das Gesicht den ganzen Tag, darum können sich die Hände in diesen Bereich hinein nicht ausbreiten, außer beim Verlust der Hand. Wenn die Hand weg ist, dann übernimmt das Gesicht das Handareal. Und das Bemerkenswerte ist, es bleibt ein Schatten der Hand erhalten. Sie können das Gefühl, die Hand gestreichelt zu bekommen, noch evozieren, indem sie über das Gesicht streichen.

Und nun komme ich wieder zurück auf die Pianisten und das Problem mit den Fingern. Dagegen machen wir nun Folgendes: Der Prof. Thomas Elbert – mit dem ich viel zusammen mache, jeder mit eigenen Methoden –, der hat konsequent versucht, den Prozess rückwärts laufen zu lassen, die Finger immobilisiert mit einer spezifischen Manschette, sodass der Pianist drei bis vier Wochen nur einen Finger benutzen kann, danach dasselbe mit einem anderen Finger usw. Und ich mache im Prinzip die gleiche Geschichte, aber mit Hilfe der transkraniellen Magnetstimulation – die haben die Briten Mitte der 80er-Jahre entwickelt, es sieht aus wie ein großer Aufziehschlüssel für ein Spielzeugauto und erzeugt starke Magnetfelder, die induzieren wiederum elektrische Ströme. Ich halte das Gerät an die entsprechende Stelle des Kopfes und kann so das darunter liegende Hirngewebe erregen oder auch hemmen, also entsprechend beeinflussen. Jeden einzelnen Finger! Damit hemme ich also die Repräsentation dieser Finger, die eigentlich störend sind, und lasse den anderen trainieren. Unter anderen Bedingungen errege ich den, während er traniert wird. Die Befunde zeigen, dass die Reorganisation wesentlich schneller geht. Ich brauche jetzt nicht mehr ein halbes Jahr, sondern nur noch drei bis vier Wochen, das ist natürlich für einen Pianisten, der vielleicht gerade auf dem Höhepunkt war und gefragt ist, eine enorme Erleichterung.

Es sind ja besonders die modernen Techniken, die auch gerade im Bereich der kognitiven Neurowissenschaften einen unheimlichen Schub an Fragestellungen ausgelöst haben. Bis vor, sagen wir mal, 20 Jahren war der Zusammenhang zwischen Verhalten und Gehirn eine eher klinisch dominierte Forschung. Das hat sich fundamental geändert durch so eine wichtige Entwicklung wie die Kernspintomographie, das war eine Revolution. Man konnte bei einem lebenden Menschen das Gehirn angucken! Der zweite wichtige Sprung kam ein paar Jahre später mit verschiedenen Verfahren, die es erlauben, die Durchblutungsveränderungen bestimmter Gehirnregionen genau zu lokalisieren, oder auch mit der Magnetenzephalographie, wo Magnetfelder, die am Cortex entstehen, mathematisch so verarbeitet werden, dass man zurückschließen kann auf das, was im Gehirn passiert. Eine große Rolle spielten natürlich die Amerikaner, die ja immer sehr schnell sind. Als Präsident Bush senior die Jahre 1990 bis 2000 zur ‚Dekade des Gehirns‘ erklärte, sind enorme Forschungsgelder zur Verfügung gestellt worden. Das brachte einen großen Aufschwung der Neurowissenschaften, und davon haben auch wir profitiert.“

Wir erheben uns, um den Fahrsimulator anzuschauen. Er steht in einem abgedunkelten Raum, besteht aus einer offenen, naturgetreuen Fahrkabine und drei davor aufgebauten, leicht gegeneinander gekippten großen Bildschirmen. „Das ist ein Beispiel der virtuellen Realität, zu der wir auch gerade eine Studie machen“, sagt Herr Prof. Jäncke und steigt geschmeidig hinters Lenkrad. „Wir messen die Fähigkeit oder die Neigung der Person, sich in einer virtuellen Realität wiederzufinden. Oder wir messen die Augenbewegungen, und wir stimulieren im Nebenraum mit dem transkranialen Magnetstimulator, von dem ich vorhin gesprochen habe, bestimmte Gebiete des Gehirns, machen dann hier Fahrsimulation mit der gehemmten Gehirnregion. Die Person gerät dann in Schwierigkeiten, und wir können sehen, welche Gehrinregion für welche Funktion zuständig ist.“ Herr Jäncke wählt aus dem Programm: Landstraße mit Gegenverkehr, schönes Wetter, und „fährt“ in einer sich mitbewegenden Kabine „durch“ eine recht realistische grüne Agrarlandschaft zügig direkt auf ein Reh zu, das nach dem Abbremsen etwas steifbeinig zur Seite tritt. Nun geht die Fahrt durch eine Kleinstadt. Geschäfte und ein Brillenladen von Fielmann sind zu sehen. Einem Ball samt spielendem Kind kann der Fahrer gerade noch ausweichen. Fahr- und Bremsgeräusche wirken sehr animierend. „Ihnen wird wahrscheinlich gleich ein bisschen übel werden! Kinetose … weil Sie dastehen und zusehen, passen die vestibulären Informationen nicht zu den visuellen. Jetzt fahr ich mal etwas riskanter, damit Sie es sehen, wie Sie schwindlig werden … oh, patsch!“ Herr Prof. Jäncke ist auf eine sich öffnende Autotür aufgefahren, noch bevor uns schlecht werden konnte.

Er steigt aus, und wir folgen ihm in den Nebenraum. Er lässt uns einen Blick auf den Magnetstimulator werfen und auf einen Mann, der eine Elektrodenkappe auf dem Kopf hat, aus der medusenartig die Kabel zum Aufzeichnungsgerät führen, um dort zierliche Zacken zu melden. „Es bewegt sich was“, stellen wir befriedigt fest, worauf Herr Prof. Jäncke ausruft: „O ja, der Mensch, er lebt!“ Sofort schlägt der EEG-Schreiber wild aus und hinterlässt ein kurzes großzackiges Chaos in der friedlichen Versuchsanordnung. „Das ist vom Lachen, die Muskelaktivierung ist wesentlich stärker als die Muskelaktivierung, die wir vom Cortex ableiten“, sagt Herr Jäncke und bedankt sich beim Probanden, bevor wir den Raum verlassen. Wir beschließen, nun zu ihm nach Hause zu fahren, und befinden uns wenig später in einem Auto auf dem Weg nach Uster, das etwa 25 Kilometer südöstlich von Zürich liegt. Es regnet, und er fährt zum Glück moderater als im Simulator. „Wir haben eine Superanbindung an Zürich, man kann eigentlich schon sagen, es ist ein Vorort mit 30.000 Einwohnern und eigener Infrastruktur, die Schulen sind sehr gut, auch die Sportmöglichkeiten, nur das Kulturelle kommt etwas zu kurz.“ Wir fragen nach der Gefährlicheit der Magnetwellen. „Also das alles, auch die Kernspintomographie, ist vollkommen unschädlich, es sei denn, Sie haben einen Herzschrittmacher oder Metall im Körper. In Washington lebt seit 10 Jahren eine Affenfamilie mit der 40fachen Erdanziehungskraft, und die vermehren sich und leben friedlich dahin. Ich selbst bin ein gutes Beispiel, ich habe 200 Stunden im Kernspin gelegen – wir haben unter anderem motorische Experimente gemacht, um herauszufinden, wo genau die Gebiete sind, die die einzelnen Finger repräsentieren – und es sind weder organische Schäden aufgetreten, noch konnte ich irgendwelche anderen negativen Veränderungen an mir feststellen.“

Wir fahren durchs automatisch sich öffnende Garagentor quasi direkt ins Haus, wo wir von Frau Jäncke sehr freundlich empfangen werden. Wir trafen uns bereits kurz im Institut. Sie arbeitet dort als Psychologin und ist die Assistentin ihres Mannes. Küche und Essraum sind groß, offen, weiß gestrichen. An der Wand, hinter dem mit Erdbeertörtchen und erlesenem Geschirr gedeckten Tisch, hängt ein großes Bild an der Wand. Es zeigt eine blaue Schüssel, in der leuchtend gelbe Zitronen liegen, und wurde vom malenden Sohn mit sechs Jahren angefertigt. Dominierend im Raum aber ist ein blauer, großer Käfig, in dem der Papagei Joschi sitzt und schrill auf sich aufmerksam macht. Während Elisabeth ein heftiges Techtelmechtel mit dem Papagei beginnt, sein Balzverhalten auslöst, ihn sogar durch die Gitterstäbe hindurch am Kopf kraulen darf, lerne ich den inzwischen zwölfjährigen Sohn kennnen und folge ihm nach oben, wo er mir seine Geckos zeigen will. Die Kinderzimmer der beiden Knaben sind mit allem ausgestattet, was ein heutiges Bubenherz begehrt. Ebenso ist es mit dem Terrarium der Geckos, die, weil nachtaktiv, erst aus einer röhrenförmigen Unterkunft hervorgezogen werden müssen. Sehr geschickt und zierlich präsentiert der Knabe seine Echsen und erklärt ihr Liebesspiel, das man versehentlich für einen Kampf gehalten habe.

Während wir uns zum Kaffee niederlassen und Herr Prof. Jäncke erzählt, er habe schon in der Kindheit Wissenschaftler werden wollen, wird der Papagei wegen Missachtung seiner Person so laut, dass er weggebracht werden muss nach oben, von wo seine empörten Rufe gedämpfter erschallen. „Ich hab Freud gelesen in der Schulzeit, Alfred Adler verschlungen und zum Beginn der Oberstufe habe ich Konrad Lorenz gelesen, ‚Das so genannte Böse‘, und war begeistert. Da war diese ‚Verhaltenssache‘ eigentlich schon bei mir ganz fest verankert als Interesse, deshalb habe ich dann auch Psychologie studiert …“ Der Vogel ruft melodisch, und Frau Jäncke sagt: „Beim Psychologiestudium haben wir uns dann auch kennen gelernt, 1985 …“ „Ja“, sagt er, „und meine Frau hat lange Jahre quasi diagnostisch gearbeitet, mit Kindern, und kommt jetzt wieder auf die ‚Roots‘ sozusagen zurück. Wir müssen uns einen Stab von Therapeuten aufbauen, und sie soll das leiten und durchführen … Die Schweizer haben übrigens keine Probleme damit, dass man als Paar zusammenarbeitet …“, und sie fügt hinzu: „Es ist einfach so, dass man das hier als Gewinn ansieht und nicht, wie bei uns, Probleme damit hat …“ Nachdem Herr Prof. Jäncke noch längere Zeit über Drittmittelbeschaffung gesprochen hat, brechen wir auf, verabschieden uns oben von den Kindern und Frau Jäncke, bedanken uns für alles, und als der Hausherr dem erregten Papagei begütigend über den Kopf streichen will, wird er derb gebissen vor versammeltem Publikum und ist verstimmt.

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