: Des Königs Kleider sind zu groß
Heute beginnt bei der Leichtathletik-WM der Zehnkampf, vom DLV ist jedoch in der einstigen Paradedisziplin nur ein Athletam Start: Junioren-Europameister André Niklaus, der beweisen will, dass der Zehnkampf in Deutschland nicht tot ist
aus Paris FRANK KETTERER
Diese Geschichte handelt vom König und davon, dass das Land sich sorgt um ihn. Er stecke in einer tiefen Krise, kann man, wenn man sich umhört im Volke, vernehmen, und das Volk ist das nicht so richtig gewohnt. Bisher hatte es nur große, mächtige Könige kennen gelernt, die, wenn sie auszogen in fremde Länder, stets glänzendes Schmuckwerk mit nach Hause brachten. Manchmal golden, ziemlich oft silbern, mindestens aber bronzen. Die Könige hießen Jürgen Hingsen und Willi Holdorf, Guido Kratschmer und Siggi Wentz, Christian Schenk und Thorsten Voss, und Frank Busemann, natürlich Busemann. Und sie sammelten Punkte, so viele Punkte. 8.500, 8.600, 8.700. Es waren Punkte fürs Volk – und beim Volk. Die Könige waren deshalb sehr beliebt.
André Niklaus ist dem Volk gar nicht bekannt. Er hat ja auch keine so breite Schultern und schon gar nicht so viele Punkte. 8.042, das reicht nicht, um berühmt zu sein, es reicht ja noch nicht einmal, um sich ordentlich für die Weltmeisterschaften der Leichtathleten in Paris zu qualifizieren. 8.090 Punkte hatte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) von seinen Zehnkämpfern hierfür gefordert, eine Norm, die derzeit niemand im Land der Busemänner erfüllt. Der DLV beschloss daraufhin, keinen seiner Zehnkämpfer nach Frankreich zu entsenden, was keine gute Schlagzeile war in den Medien. Aus den Königen seien Bettelmänner geworden, analysierte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung, und das war noch eine der netteren Umschreibungen der Misere. Beim ohnehin nicht mit Lob überschütteten DLV haben die Meldungen vom Niedergang der einstigen Paradedisziplin immerhin dazu geführt, dass doch noch ein deutscher Teilnehmer aus dem Hut gezaubert wurde. Einer ist schließlich besser als keiner – und mit André Niklaus kann der Verband zudem den Schein wahren, dass es schon bald wieder besser werde. Schließlich ist Niklaus erst 21 und gerade Junioren-Europameister geworden. Da darf man doch hoffen. Oder?
Christian Schenk schüttelt den Kopf, wenn man ihm diese Frage stellt. Schenk ist der letzte deutsche Olympiasieger im Zehnkampf, 1988 in Seoul machte er sich unsterblich. Heute sagt er: „Es ist doch peinlich, dass es in Deutschland derzeit keinen 8.000-Punkte-Mann gibt“, und auch, dass sich an der Krise kurzfristig nichts ändern werde. An der mangelnden Bereitschaft der jungen Athleten liege das, glaubt Schenk, der Bereitschaft, „sich mit Haut und Haaren dem Zehnkampf zu widmen und 30 bis 40 Stunden pro Woche zu trainieren“. Die sei heute nicht mehr so gegeben, auch weil die jungen Leute sich mit anderen Sorgen herumplagen müssten, mit Schule und Studium und solchen Dingen, den Dingen fürs Leben danach eben. „Entweder ich bin Profi oder ich bin kein Profi“, sagt Schenk; ohne Profitum aber sei Weltklasse heute nicht mehr zu erreichen. Dass er dabei ausgerechnet Tim Lobinger, den Stabhochspringer, als Vorbild nennt, passt prima ins Bild. Lobinger ist Vollprofi – und er hat den deutschen Leichtathletik-Nachwuchs erst kürzlich als Hosenscheißer bezeichnet, unter anderem, weil der das Risiko scheue, alles auf eine Karte zu setzen, die Karte Sport. „Das ist die Gesamtproblematik der deutschen Leichtathletik“, findet Schenk, und in die Pflicht nimmt er da auch den Verband: „Die müssen sagen: Wir wollen Medaillen – und dafür müssen wir auch etwas tun.“ Der Zehnkämpfer Schenk ist noch in der DDR groß geworden und weiß, wie erfolgreiche Nachwuchsförderung aussieht.
Claus Marek hört solche Kritik nicht gerne, schließlich ist er als Zehnkampf-Bundestrainer unter anderem für die Erstellung von entsprechenden Förderkonzepten zuständig. Überhaupt reagiert Marek recht dünnhäutig, wenn man ihm mit der Krise kommt. „Dusselig“ findet er all die hohen Erwartungen – und völlig vorbei an der Realität. „Was soll ich denn machen? Soll ich mir einen backen?“, tritt er stattdessen die Flucht nach vorne an, verbunden mit der Aufforderung: „Schauen Sie sich doch mal die heutige Jugend an!“ Was heißen soll: Die Jungen wollen sich doch gar nicht mehr so richtig schinden – noch nicht einmal in einer Disziplin, geschweige denn in deren zehn. Wenn es aber schon keine jungen Sprinter und Springer und Werfer gibt im Land, dann kann es eben auch keine jungen Zehnkämpfer geben. So einfach ist das. Und wenn es doch mal einen gibt, dann scheut vielleicht ausgerechnet der das Risiko, sich ganz dem Zehnkampf zu verschreiben und Profi zu werden. „Leistungssport ohne Risiko aber gibt es nicht“, sagt Claus Marek. Er sieht das als Strukturproblem. Spätestens hier beginnen die Argumente sich im Kreis zu drehen.
André Niklaus weiß um diese Diskussionen und das Gerede von der Krise, natürlich. Er ist schließlich einer dieser Jungen –und Zehnkämpfer. Und er ist nicht bereit, diese Urteile einfach so stehen zu lassen, auch weil es, zumindest in seinem Fall, zu einem guten Teil Vorurteile sind. Man muss nur mal hinausfahren, ins Sportforum nach Hohenschönhausen in Berlin, und Niklaus ein wenig zuschauen beim Training, zum Beispiel wenn er die Kugel stößt bei sengender Hitze und der Schweiß in Strömen fließt und er ächzt unter der Anstrengung. Oder man lässt ihn von seinem Übe-Pensum erzählen, das er so beschreibt: „Montag und Dienstag volle Pulle, Mittwoch ein bisschen ruhiger, Donnerstag und Freitag volle Pulle, Samstag halbe Pulle oder Wettkampf.“ Volle Pulle heißt: Zweimal am Tag zwei Stunden, mindestens. Hinzu kommen jeweils Physiotherapie – und bisher der Job als Zivildienstleistender. Im Herbst könnte es sogar noch mehr Zehnkampf werden, Niklaus will bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr anheuern. „Da habe ich professionelle Bedingungen“, hofft er; um die zu bekommen, hat er sogar den Plan verworfen, eine Ausbildung zu beginnen. „Es fand sich einfach keine Lehrstelle, die sich mit dem Training hätte vereinbaren lassen“, sagt Niklaus. Er empfindet das durchaus als Wagnis, allerdings als kalkulierbares: „Studieren kann ich ja auch später noch“ – nach dem Zehnkampf, soll das heißen.
Jetzt aber steht für ihn erst mal Paris an, die WM. Niklaus wird nicht um die Medaillen mitkämpfen, das steht fest, auch er weiß das. Als Chance sieht er seine Teilnahme dennoch, weil er im Stade de France lernen kann von den Großen, von Sebrle und Konsorten. Er hat sich die Teilnahme verdient, daran besteht kein Zweifel, auch wenn ihm eigentlich ein paar Punkte fehlen; und er ist fest entschlossen, seine Chance zu nutzen. „Bestleistung“, sagt er, wenn man ihn nach seinem Ziel für Frankreich befragt, mehr kann man von einem jungen Sportler zum Saisonhöhepunkt nicht einfordern. Alles, was besser ist als 8.042 Punkte, wäre also ein Erfolg für André Niklaus, schließlich ist er erst 21 und hat noch jede Menge Zeit, sich zu entwickeln.
Die Frage wird sein, ob das verwöhnte Volk das auch so sieht. Oder ob es den jungen Mann, der momentan noch kaum mehr ist als ein Thronfolger, vergleicht mit all den großen, alten Königen und mit deren Erfolgen und ob es dann sagt: „Unser junger König ist ein schlechter König, der nichts gewinnen kann.“ André Niklaus sagt: „Dass das so kommen kann, damit muss man sich schon im Vorfeld auseinander setzen.“ Er sagt auch: „Der Zehnkampf in Deutschland ist nicht tot. Das würde ich gerne beweisen.“
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