MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON GERRIT BARTELS: Luftkrieg
Volker Hage: „Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg“. S. Fischer, Frankfurt 2003, 300 S., 18,90 €
Der Schriftsteller Dieter Forte empfindet sein Leben als zerstört: „Ich bin ein Kriegskind und durch den Krieg geprägt, in jeder Weise“; Wolf Biermann, der den Feuersturm über Hamburg im Juli 1943 im Alter von sechs Jahren überlebte, sagt, seine Lebensuhr sei damals stehen geblieben, schon gar nicht könne er einen Roman darüber schreiben; der 2001 tödlich verunglückte Schriftsteller W. G. Sebald wiederum, obwohl erst 1944 geboren und aufgewachsen in einer Gegend, die vom Luftkrieg fast verschont blieb, hatte immer den Eindruck, „dass ich aus dieser Zeit stamme“, so als fiele von ihr, „von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde“.
Die meisten dieser Zitate stammen aus einem Buch des Spiegel-Redakteurs Volker Hage: „Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg“. Ein Buch, das man als Versuch lesen kann, Sebalds Ende der Neunziger geäußerte These vom fast totalen Schweigen der deutschen Nachkriegsliteratur zum alliierten Bombenkrieg zu widerlegen: „Es waren die Literaten, die den Luftkrieg entdeckten, bevor die Historiker ihn thematisierten“, behauptet der Klappentext. Sebald hatte das Thema damals in seinen viel debattierten Züricher Vorlesungen als ein „mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis“ bezeichnet. Den deutschen Schriftstellern hätte „die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945“ mehr am Herzen gelegen „als die Darstellung der realen Verhältnisse“, so Sebald, der in seine Kritik die Historiker mit einbezog. Eine Ausnahme war für ihn nur eine Arbeit des Militärhistorikers Jörg Friedrich, der immerhin 2002 mit seinem Buch „Der Brand“ die Debatte neu entfachte: Stilisieren sich die Deutschen langsam, aber sicher von Tätern zu bedauernswerten Opfern? Ist der Bombenkrieg in Deutschland nun ein Tabu gewesen oder nicht?
Für Hage ist die „Lücke, die nicht nur von Sebald empfunden worden ist“, weniger eine der Produktion als der Rezeption: Man muss nur lange genug suchen, um eine Menge Literatur über den Luftkrieg zu Tage zu fördern. Geschickt geht Hage auf Sebald erst am Ende des ersten Teils seines Buches ein. Vorher beweist er akribisch, wie viel Spuren der Luftkrieg in der Literatur hinterlassen hat: von Thomas Mann über Hans Erich Nossack und dem vergessenen Gert Ledig bis zu Thomas Bernhard, aber auch bei unbekannten Autoren wie Gerd Gaiser, Günter Birkenfeld oder Gertrud von Le Fort.
Noch aufschlussreicher jedoch sind seine Interviews im zweiten Teil des Buches: mit Biermann, Forte und Sebald, mit Marcel Reich-Ranicki, Walter Kempowski oder Rolf Hochhuth, mit Harry Mulisch oder Kurt Vonnegut. Gerade hier werden die Schwierigkeiten der Autoren sichtbar, den Luftkrieg und seine Folgen entsprechend darzustellen, ihre Nöte mit der Erinnerung, die psychischen Hemmschwellen, die das von Sebald beklagte Tabu auch als Selbstschutz verstehen lassen. „Es bricht auf und es ist da und erfasst einen körperlich. Da bin ich auch zusammengebrochen“, sagt Forte, während Monika Maron darauf verweist, dass die damalige Männergeneration eine Therapie gebraucht hätte, aber allein gelassen worden sei: „Umso dringlicher wäre die Literatur gewesen, als eine kollektive Therapie.“
Sie alle bestätigen direkt oder indirekt Sebalds Thesen: Das Trauma sei zu einem Tabu geworden, so Forte. Für Gerhard Roth gab es „in Österreich nach dem Krieg nur sehr wenig Bücher, die sich objektiv mit diesen Dingen auseinander gesetzt haben“. Und Günter Grass sagt, der Bombenkrieg nehme nur „wenig Raum“ in der Nachkriegsliteratur ein.
Hages Buch bleibt so angenehm unrechthaberisch, der fleißigen Literaturrecherche zum Trotz, und macht nicht zuletzt die vielfältigen Gründe für die von Sebald beklagte Lücke nachvollziehbar: Scham- und Schuldgefühle hier, nach vorn gerichtete Verdrängung und Konsolidierung dort, dazwischen die Traumatisierungen. Ob aber die andere Literatur der Nachkriegszeit, die gefeierte Verdrängerliteratur, eines Tages „untergehen wird wie die ,Titanic‘ “, wie Dieter Forte orakelt, muss die Zeit zeigen. Das wäre, folgt man Hages These von der nur unzureichenden Rezeption, gewissermaßen ausgleichende historische Gerechtigkeit.
Jugend forscht
Dirk Wittenborn: „Unter Wilden“. Aus dem Englischen von Hans Wolf. Dumont Literatur, Köln 2003, 414 S., 22,90 €
Die bestmöglichen Gewährsleute finden sich auf dem Rücken von Dirk Wittenborns Roman „Unter Wilden“, da hat der Verlag ganze Arbeit geleistet: Bret Easton Ellis und Jay McInerney. Ihrer Aufgabe, das Buch zu loben und zu preisen, kommen sie gewissenhaft nach, wobei McInerney gleich noch eine Referenz ins fröhliche Dieses-Buch-ist-mindestens-ein-großes-Spiel schmeißt: J. D. Salinger. Alles klar? „Unter Wilden“ steht also mindestens in der Tradition von „Unter Null“, „Ich nun wieder“ und „Fänger im Roggen“, wenn es nicht gar eine stämmige Züchtung aus allen dreien ist.
Liegt natürlich nahe, mit solch großen Namen zu kommen, wenn ein 16-Jähriger namens Finn (Achtung, Huckleberry!) in einem schnoddrigen, manchmal nervigen Ton sein Leben erzählt. Ein scheinbar chaotisches Leben mit seiner 33-jährigen Mutter Liz in der New Yorker Lower Eastside, das noch chaotischer wird, als beide die Stadt wegen einer Drogengeschichte verlassen müssen. Sie landen in einem kleinen Ostküstenstädtchen, einem Ort der Superreichen, wo ihnen der mit Liz bekannte Multimilliardär Osborne eine Art Asyl gewährt. Nur ist die Lower Eastside ein Brave-Leute-Viertel gegen diesen bizarren Ort und seine Einwohner.
Um das zu erkennen, braucht es Zeit. Finn verliert seine Unschuld, kommt auf Drogen und merkt, dass auch den Reichen das Schicksal nicht immer wohl gesinnt ist. So weit, so vorhersehbar. Und so farbenfroh, was die Kulisse betrifft. Anstatt aber den schrecklichen Stillstand zu zelebrieren und Finn weiter durch diese seltsame (Film-)Welt taumeln zu lassen, gibt Wittenborn plötzlich Gas. Was heiter begann, wird dramatisch bis melodramatisch. Die Ereignisse überstürzen sich: Mordanschläge, Häuserbrände, Showdowns on ice. Finns sentimentale Reise bekommt scharfe Konturen. Er wird ein anderer, weil sein neues Umfeld total aus den Fugen gerät. Kein geläutert-gescheiterter Moreau, sondern ein Mann mit Eigenschaften, der zwischen Wahrheit und Wahrheitsspielen zu unterscheiden weiß. Gegen ihn sind die Clays, Alison Pooles und Holden Caulfields dieser Welt total verlorene Seelen.
Fliegen
James Salter: „Cassada“. Aus dem Amerikanischen von Malte Friedrich. Berlin Verlag 2003, 203 S., 18 €
Neue Bücher des amerikanischen Schriftstellers James Salter schlägt man inzwischen mit einer gewissen Vorsicht auf. Wieder und neu entdeckt und gefeiert mit den schönen, elegischen Liebesromanen „Lichtjahre“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“, wechselten in Folge Licht und Schatten, hinterließen der Bergsteigerroman „In der Wand“ oder das Erinnerungsbuch „Verbrannte Tage“ eher zwiespältige Begeisterung. Salter ist ein großer Stilist, neigt bisweilen aber zu Pathos, Kitsch und Heroismus; er kann genauso elegant wie dezent nach verlorenen Zeiten suchen und kennt sich in den Untiefen allen Liebens, Lebens und Strebens allerbestens aus, aber er macht auch keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Welt der Stars und Sternchen, wie in „Verbrannte Tage“ zu lesen, und lässt schon gar nichts auf seine Zeit als Kampfflieger der US-Air-Force in den Fünfzigerjahren kommen.
Jene Zeit dürfte auch die Grundlage für den Roman „Cassada“ gebildet haben, der 1961 schon unter dem Titel „The Arm Of Flesh“ erschien und jetzt von Salter neu überarbeitet wurde. Ein Roman übers Fliegen, über Männer, die fliegen, „alles Gentlemen und die Besten der Welt“ – ein Roman also, der zu platten, männlichen Heroisierungen und trivialen Hemingwayisierungen regelrecht einlädt. Genau das aber weiß Salter über weite Strecken zu vermeiden. Unaufdringlich und ohne peinliche Verherrlichungen beschreibt er auf zwei Zeitebenen die einerseits kleine, dann wieder sehr weite Welt einer Air-Force-Staffel im Deutschland der Fünfzigerjahre.
Im Mittelpunkt stehen Captain Isbel, ein Profi und Idealist, „äußerlich kühl und innerlich noch kühler“, und Leutnant Cassada, der das Fliegen über alles liebt, ein junger Ehrgeizling, der neu in der Luftstaffel ist und sich beweisen möchte. Beide befinden sich auf dem Rückflug von Marseille zu ihrem deutschen Stützpunkt und versuchen bei sehr schlechtem Wetter zu landen. Vergeblich. Ihr Landemanöver ist der nur wenige Minuten dauernde Rahmen, den Salter mit Rückblenden ausfüllt: Isbel und Cassada, die dieselbe Frau lieben, die Flugübungen in Deutschland und Libyen, das Zeittotschlagen dazwischen, die Vorbereitungen auf den nächsten Flug.
Salters Prosa wirkt in der schönen Übersetzung von Malte Friedrich licht, klar und einnehmend, seine Dialoge sind groß in ihrer viel sagenden Beiläufigkeit, und zuweilen glaubt man förmlich spüren zu können, wie sich die Welt von einem Düsenjägercockpit aus darstellt. Natürlich nimmt weder für Isbel noch für Cassada die Landung ein gutes Ende – der eine stürzt ab, tödlich, der andere weiß mehr denn je, auch das Salter-typisch, dass das Leben nichts anderes ist als ein langer, vergeblicher Kampf.
Popliteratur
Eckhard Schumacher: „Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart“. Edition Suhrkamp, 2003, 205 S., 10 €
Als die Popliteratur noch zu den großen Aufregern im Lande gehörte, gab es oft Unsicherheiten darüber, was sie denn inhaltlich und formal nun genau ausmache. Inszenierung, Jugendlichkeit, Mode, Lifestyle, Popmusik, das gehörte alles irgendwie dazu. Weniger war die Rede von ihren formalen Eigenheiten: einfaches, schnelles, populäres Erzählen, hilfloses Erinnern, immer an der Gegenwart entlang. Aber sonst?
Der Kölner Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher schafft Abhilfe und konzentriert sich in seinem Buch „Gerade Eben Jetzt“ vor allem auf die Schreibweisen der Popliteraten. Weniger in der Setzung der Themen als vielmehr im Akt des Schreibens stelle die Popliteratur Aktualität, Gegenwart oder zumindest „die Illusion des Gegenwärtigen“ (Thomas Meinecke) her. Schumacher hebt den Ereignischarakter in der Literatur von Meinecke, Rainald Goetz oder Andreas Neumeister heraus, ihre Übergänge vom Ereignis zur Erzählung und wieder zurück. Im Mittelpunkt steht die Performanz der Wörter und Sätze selbst, die eine bestimmte Form der Gegenwart produziert. Gleichzeitig soll diese vergessen lassen, dass sich die Gegenwart zwar ohne Unterlass erneuert, aber auch eine der allerflüchtigsten Geliebten ist.
Neu ist das alles nicht. So genannte Grundlagenforschung der Gegenwart haben insbesondere die großen Popliteratur-Ikonen der Sechzigerjahre betrieben, Rolf-Dieter Brinkmann und Hubert Fichte, und damit Schriftsteller wie Meinecke und Goetz nicht wenig beeinflusst, wie Schumacher mit zwei großen Brinkmann und Fichte gewidmeten Kapiteln herausarbeitet. Auch die Gegenwartsliteratur ist schließlich ein weites Feld, auch Gegenwart ein höchst unscharfer Begriff. Und blendet sich die Vergangenheit nicht ständig mit in die Gegenwart?
Brinkmann und Fichte wurde seinerzeit vorgeworfen, ihre Literatur sei dermaßen mit „Aktualität und das heißt mit Vergänglichkeit aufgeladen, dass sie ihre Saison weder lange überdauern wollen noch können“ (Reinhard Baumgart) – inzwischen gehören sie zum Kanon der Gegenwartsliteratur. Nicht anders geht es der Popliteratur der jüngsten Zeit: lange erfolgreich, aber nicht ernst genommen oder verstanden. Mittlerweile totgesagt, aber durch Bücher wie „Gerade Eben Jetzt“ oder Baßlers „Die Neuen Archivisten“ sozusagen höher geweiht. Schumachers Untersuchung „knallt“ zwar nicht so, wie es die Popliteratur einer Zuschreibung gemäß tut, sorgt aber für die Tilgung mancher blinder Flecken in der Rezeption.
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