: Kleine Zusammenrottung
Was passiert, wenn das Arbeitsamt geschlossen bleibt, fragt Oliver Bukowskis Stück „Kritische Masse“. Der Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus fallen dazu grelle Prollklischees ein
VON SIMONE KAEMPF
Anfangs scheint die Bühne eine übergroße Aussichtsplattform zu sein, die nach und nach bestiegen wird. Von der jungen Mutter etwa, die sich in Leggings und rosa Mini samt Kinderwagen hochhievt. Eine ehemalige Uniprofessorin kommt mit zwei Aktenkoffern. Paschke jedoch trägt nur, was er auf dem Leib hat, Shorts und Unterhemd. Dann reiht er sich in die Warteschlange und schaut wie alle anderen gebannt in die Ferne, als läge da eine goldene Zukunft oder auch nur eine schöne Fernsicht. Der Ausblick scheint allerdings noch trüber als sonst. Denn man starrt nicht in die Ferne, sondern auf die Türen des Arbeitsamts, das heute wegen irgendwelcher technischer Mängel geschlossen bleibt.
Die Akademikerin ist die Erste, die ausschert und auf einem weißen Plastikstuhl eine Rede hält wie in der Speakers’ Corner. Die geordnete Warteschlange löst sich daraufhin auf und wird jetzt als bunt zusammengewürfelter Haufen erkennbar,vom erfolglosen Jungschriftsteller bis zur russischen Einwanderin. Eine Zufallsgemeinschaft, fünfzehn verkrachte Existenzen, die zunehmend in Unruhe geraten. Die verschlossene Tür des Arbeitsamtes ist da nur der Beginn eines Aufbegehrens und Zusammenrottens, einer Kettenreaktion, die am Ende vielleicht sogar dazu führen könnte, dass Brandsätze ins Publikum fliegen. So jedenfalls, mit einem richtigen Knall, wünscht sich der Dramatiker Oliver Bukowski das Ende seines Stücks „Kritische Masse“. Wobei sich der Haufen Außenseiter alles andere als systematisch organisiert, sondern eher in sozialmilieuhafter Grilllaune zusammenkommt.
Von diesem Sozialstück Bukowskis sind in Sebastian Nüblings Uraufführung am Hamburger Schauspielhaus nur noch Reste wiederzuerkennen. Und auch die Entladung findet ganz anders statt: beim Komasaufen im Stroboskoplicht einer Technoparty, angetrieben von einem Animateur, der längst selbst arbeitslos ist. Er macht für seine Schicksalskollegen richtig Stimmung. Die, die eben noch brav anstanden, trinken, tanzen und fummeln nun am Bühnenrand.
Wie eine Traube klebt die Meute am russischen Animiermädchen, das die Schnäpse ausschenkt. Die Körper schmelzen in diesen Szenen zu einer Masse, die Kräfte freizusetzen vermag. Die Möglichkeit einer kollektiven Energie ist vorhanden, versickert dann aber doch in der Katerstimmung, die alsbald folgt, wenn man sich die Kante gibt. Wie formbewusst Nübling diese Massenszenen choreografiert, muss man schon bewundern. Das allein könnte einen beeindruckenden Abend abgeben. Dass er allerdings auch noch Unterschichtenauthentizität auf die Bühne zerrt, ist nicht nur des Guten zu viel, sondern wird zum Verhängnis. Man schaut einem Haufen Prolls bei dem zu, was sie am besten können: saufen, ficken, Sprüche klopfen. Immer noch stellt das Theater gern scheinbar heile Welten aus, um am Lack zu kratzen und das Leben unter der Fassade zu zeigen. Aber die Abgehängten und Ausgeschlossenen eins zu eins auf die Bühne zu holen, ist wenig erhellend und weckt an diesem Abend nicht einmal Mitleid.
Die Bühne ist eine leere schräge Fläche. Mit umso mehr Detailfreude hat Magda Willis die Schauspieler kostümiert, ja nachgerade verkleidet. Eine betont geschmacklose Kombination aus Weste, T-Shirt und kurzen Hosen, wie sie der Figur des Lothar Ackermann verpasst ist, bleibt denn auch länger in Erinnerung als die Figur darin.
Immer wieder werden die ruhigeren Szenen mit Vivaldi-Musik beschallt, und zwar in jener nölig blechernen Endlosschleife, wie sie am Hamburger Hauptbahnhof die Penner vertreiben soll. Zum Ende hin stimmen die Schauspieler in die „Vier Jahreszeiten“ ein. Sie formieren sich auch sonst zum Chor und skandieren den Refrain „Kopf oder Zahl?“ in Richtung Publikum. Das erinnert ein wenig an Volker Löschs „Marat-Sade“-Abend, der arbeitslose Hamburger auf die Bühne holt, die als Chor von ihrem Schicksal erzählen und Sätze wie „Wir sind auch Opfer“ ins Publikum knallen.
Arbeitslosen eine glaubwürdige Stimme zu geben, ihr Schicksal gar differenzierter zu beleuchten, scheitert bei Nüblings „Kritische Masse“ allerdings an einem uralten Theaterproblem: Das Spiel ist nicht real genug, um Realität zu sein, und nicht unwirklich genug, um nicht Realität sein zu wollen. Die Kunstanstrengung bleibt offensichtlich, so sehr sich die Schauspieler auch ins Zeug werfen. Jana Schulz gibt eine kettenrauchende Mutter, die manisch ihren nervtötend quietschenden Kinderwagen schaukelt. Jörn Knebel als verkappter Jungschriftsteller hört gar nicht auf, dreckige Witze zu erzählen. Samuel Weiss dreht als Animateur vollends auf und macht daraus seine eigene Show. Zum Protestmachen zieht man sich nackt aus und wälzt sich in blauer Tinte. Einen Stempel drückt diese Inszenierung damit nicht auf.
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