: Der legitime Skandal
Rüttle mich auf, Künstler! Nirgendwo sind bürgerliche Zuschauer so beflissen und läuterungswillig wie in der Oper – nicht nur wenn Christoph Schlingensief inszeniert. Anders wäre die Vornehmheit dieser einst feudalen Kunstform auch nicht zu ertragen
VON FLORIAN WOLFRUM
Der vielleicht interessanteste Kommentar zu Christoph Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung stammt von der Ehefrau des bayerischen Ministerpräsidenten: „Theater muss auch revolutionär sein, um die Menschen aufzurütteln.“ Zugegeben: Es war natürlich gerade das Verbleiben unterhalb der Skandalschwelle, was der bayerischen First Lady das Bekenntnis zum revolutionären Künstlertum entscheidend erleichterte. Dennoch formuliert dieser Satz einen Konsens, der auch die echten Skandalinszenierungen betrifft: Der Künstler hat revolutionär zu sein, das Publikum muss aufgerüttelt werden.
Die Rhetorik, der sich Karin Stoiber hier bedient, evoziert das Bild eines Schlafenden, der an den Schultern gepackt und gerüttelt wird, auf dass er zur Bewusstheit gelange. Es ist eine keineswegs originelle Rhetorik, vielmehr hat sie eine lange Tradition hinter sich, in deren Verlauf sie reichlich Patina angesetzt hat. Es ist der revolutionäre Gestus des modernen Künstlers vom Anfang des 20. Jahrhunderts, der nun, am Anfang des 21., im bürgerlichen Establishment angekommen ist. Man könnte meinen, dass nichts deutlicher dafür spricht, dass wir in der Postmoderne leben.
Zu welchem neuen Bewusstsein wir eigentlich erwachen sollen, das wird uns aber vermutlich auch Frau Stoiber nicht näher erklären können. Ein moralisierender Unterton ist jedenfalls unverkennbar: Der Künstler ist im Besitz einer moralischen Erkenntnis, die der Bürger in seiner Verschlafenheit noch nicht teilt, aber gern teilen will. Womöglich ruft er laut „Skandal“, aber insgeheim weiß er, dass alles nur zu seinem Besten ist. Die Rollenverteilung hat etwas Rührendes ob der Lernwilligkeit des bürgerlichen Kunstrezipienten. So beflissen und läuterungswillig kennt man ihn gar nicht im richtigen Leben. Das macht die Sache etwas verdächtig: Ist die revolutionäre Rüttelei am Ende vielleicht auf eine ganz andere Bedürfnislage des Opernbesuchers abgestimmt? Und warum will er ausgerechnet in der Oper aufgerüttelt werden?
Um diese Fragen zu beantworten, gilt es zunächst einmal genauer zu betrachten, was einen richtigen Opernskandal eigentlich ausmacht. Zwei Bestandteile scheinen unverzichtbar: die Nacktheit und die Gewalt. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito brachte in seiner vor einigen Wochen viel beachteten Berliner Mozart-Skandalinszenierung beides zugleich auf den Punkt, als er das Abschneiden einer weiblichen Brustwarze auf der Bühne simulierte und damit heftigste Aufrüttelungseffekte beim Publikum erzielte. Doch wo sonst als in der Oper ließen sich solche Effekte überhaupt noch erzielen? Auf der Theaterbühne ist die physische Drastik seit dem Naturalismus Tradition, der Surrealismus und Artauds Forderung nach einem „Theater der Grausamkeit“ haben sie noch verschärft. Ihre eigentliche Heimat haben Darstellungen von Nacktheit und Gewalt aber im Film. Hier sind sie völlig skandalfrei möglich, allenfalls schreitet der Jugendschutz ein.
Die eigentliche Grenzüberschreitung, die eine Skandalinszenierung vornimmt, ist also eine Überschreitung von Gattungsgrenzen. Gewalt und Nacktheit, in Kino und Fernsehen von der Gesellschaft längst akzeptiert und ubiquitär, schwappen in die Welt der Oper hinüber. Im Kino allerdings glaubt niemand, durch revolutionäre Darbietungen dieser Art aufgerüttelt zu werden. Warum werden Gewalt und Nacktheit, wenn sie aus dem Kino auf die Opernbühne überwechseln, plötzlich skandalträchtig, revolutionär und aufrüttelnd? Der Grund kann nur in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen liegen, die Kino und Oper erfüllen.
Anders als der Film ist die Oper eine „legitime Kunst“ im Sinne des Soziologen Pierre Bourdieu, will sagen: Sie genießt, jedenfalls im traditionellen Gattungsverständnis, ein besonderes Prestige, eine größere Würde und höhere Berechtigung, weshalb sie ein spezielles Verhältnis zur Oberschicht der Gesellschaft, zu den ökonomischen und politischen Eliten unterhält. Der Grund dafür ist ihre vornehme Herkunft, denn sie war ursprünglich eine höfische Kunst, die dem Amüsement der Eliten der Feudalzeit diente, und dem entspricht auch bis heute ihr Verhältnis zum Publikum. Denn jede höfische Kunst, so Bourdieu, ist eine höfliche Kunst, die sich dem Prinzip der Frontalität unterwirft: Sie wendet sich unmittelbar an den Zuschauer, ohne Rücksicht auf die Erfordernisse der Bühnenillusion, und betont mit allen möglichen Mitteln, dass es sich um eine Fiktion, eine nach vereinbarten Spielregeln veranstaltete Unterhaltung handelt.
Ganz im Gegensatz dazu nimmt der Film, die ganz und gar dem industriellen Zeitalter zugehörige Kunstform, seinen Zuschauer mit an den Ort des Geschehens. Dort lässt er ihn mal die Position es unbemerkten Zuschauers, mal die des Opfers, mal die des Täters einnehmen. Er konfrontiert ihn mit Dingen, die ihm kalte Schauder über den Rücken jagen, das Herz bis zum Hals schlagen lassen, den Angstschweiß auf die Stirn treiben, ihm den Magen umdrehen oder ihn in sexuelle Erregung versetzen. Er ist unhöflich zu seinem Publikum, lässt jede Distanz vermissen und hält sich an keine Regeln. Er wählt bevorzugt die Mittel, die möglichst direkt auf den Körper des Zuschauers zielen, und in letzter Konsequenz sind dies nun einmal Gewalt und Nacktheit.
So ein Umgang ist freilich nur unter Gleichen möglich, Majestäten und Hochwohlgeborene lassen sich Derartiges von einem Künstler nicht bieten. Der Film konnte von vornherein auf die physische Präsenz setzen, weil er nicht bei Hofe, sondern in den Jahrmarktsbuden der Rummelplätze zur Welt kam. Wer dort hinging, wollte etwas erleben, wollte seine Schaulust befriedigen und war gern bereit, sich sonst wohin mitnehmen zu lassen, wenn es nur etwas Fesselndes zu sehen gab. Daher ist es auch kein Zufall, dass im amerikanischen Kino, dem Kino aus dem Land der Gleichen, das Prinzip der physischen Präsenz seine prägnanteste Ausformung erfahren hat.
Mit dem Überwechseln der Mittel des Films in die Oper wird nicht bloß der lustvolle Schrecken mit importiert – das zweifellos auch, denn die Skandale haben ihren Kitzel –, sondern vor allem die demokratische Volkstümlichkeit, die sich mit den raueren Umgangsformen verbindet. Als Opernbesucher verspürt man aber die Pflicht, voyeuristische Neigungen, die sich aufs Drastische richten, zu verleugnen und abzuwehren. In der Rolle des Rummelplatzbesuchers will sich niemand wiederfinden. Zumindest offiziell muss es eine andere, etwas respektablere Rolle sein, und dafür bietet das Modell „revolutionärer Künstler rüttelt Bürger auf“ genau die richtigen Voraussetzungen. Denn indem der Zuschauer dem Künstler das Recht zugesteht, ihn mit dem Erschreckenden und Abgründigen zu konfrontieren, beweist er auch, dass er selbst über das dazu nötige Ethos verfügt. Er ist keiner, der es sich leicht machen will. Er ist bereit, sich nicht höflich, sondern unsanft behandeln zu lassen. Er akzeptiert die Notwendigkeit, sich aufrütteln zu lassen.
Dieses Ethos hat ebenfalls seine Geschichte: Es ist das Ethos der Pflicht zur Konfrontation mit den dunklen Seiten der Realität, aus dem das Bürgertum des 19. Jahrhunderts seine Identität und Legitimation gegenüber der Feudalgesellschaft bezog. Ein Ethos, das seine genuinen Kunstäußerungen, die realistische Literatur und ihren Ableger, das naturalistische Drama, geprägt hat. Immer geht es dabei auch um die eigene Rolle: Als Rezipient der bürgerlichen Kunstformen erweist man sich als Mensch, der es freiwillig auf sich nimmt, einen Blick in den Abgrund zu werfen, für den die Kunst kein heiteres Spiel, sondern eine ernste Angelegenheit ist, der die dunklen Seiten der menschlichen Gesellschaft nie aus dem Auge verliert – kurz, der nicht das vergnügungssüchtige Mitglied einer überfeinerten leisure class ist, sondern ein verantwortungsbewusster Bürger.
Die Pose des antibourgeoisen Revolutionärs, die der Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich erfunden hat, ist deshalb nur eine der Masken, in der sich seitdem die fortschreitende Verbürgerlichung der Künste vollzieht. Dieser Prozess hat die Oper spät erreicht. Lange Zeit war ihre feierliche Aura zu Respekt gebietend, und es gehörte schon immer zur Identitätspolitik des Bürgertums, die Errungenschaften der Feudalzeit in Einzelfällen zu übernehmen. Schließlich konnte man von diesem Erbe profitieren: Man gewann das, was Bourdieu die Legitimität nannte.
Doch eben diese Legitimität der hergebrachten Künste, ihre vornehme Abkunft, wird uns zu einer zunehmend unerträglichen Last. Die Rollenangebote, die die Oper dem Zuschauer in ihrer traditionellen Form macht, sind eine Zumutung: Die Vorstellung, legitimer Erbe von Fürsten und ihrem Hofstaat zu sein, wäre selbst für unsere Eliten eine lächerliche Prätention; die Vorstellung, in die Fußstapfen unserer bürgerlichen Vorfahren zu treten, die einmal dankbar waren, dass auch sie zum höfischen Spektakel zugelassen wurden, ist demütigend.
Gleichzeitig ist es kaum möglich, diesen Rollenzumutungen zu entkommen. Mehr als jede andere Kunstform ist die Oper in der Lage, die Inszenierung über die Bühne hinaus zu erweitern. Alles, was im Parkett, auf den Rängen und in den Logen, ja selbst was auf den Gängen, im Foyer und auf dem Platz vor der Oper vor sich geht, gehört dazu und ist mit Bedeutung aufgeladen. Für die Mitglieder der höfischen Gesellschaft war es selbstverständlich, den Kunstgenuss mit repräsentativen Aufgaben zu verbinden. Der Bürger aber ist Privatmann, wenn er sich der Kunst widmet; allenfalls einige Prominente, die gewöhnt sind, sich in aller Öffentlichkeit zu spreizen, werden mit dem allgemeinen Zwang zum Auftritt glücklich.
Daher ist es verständlich, dass sich in der heutigen Gesellschaft gerade derjenige zum Opernregisseur qualifiziert, der – in Verbindung mit moralischem Engagement für Frauen, Arbeitslose und andere Benachteiligte – den Mut zur Darstellung von Grausamkeit unter Beweis gestellt hat. Er verspricht, uns von unpassenden Rollenzumutungen zu befreien, uns das sein zu lassen, was wir sein wollen: ganz gewöhnliche Bürger, die aber nicht einem eitlen Vergnügen nachgehen, sondern hart an sich arbeiten und die drastischen Lektionen, die ihnen die Künstler zumuten, willig zu akzeptieren bereit sind.
Auf welche neue Bewusstseinsstufe uns das jeweils hebt, ist am Ende gar nicht so wichtig. Wir wollen es so, weil wir uns dabei einfach wohler fühlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen