Wo Assisi und Buddha sich Gute Nacht sagen

Auf dem Franziskushof leben und arbeiten ehemalige Obdachlose. Nun soll das Kloster zahlende Gäste aufnehmen – und sich dem Buddhismus öffnen

„Was mir vorschwebt, ist ein Kloster auf Zeit. Der Kirchensaal soll zum Dojo werden“

VON PHILIPP SAWALLISCH
UND FRITZ E. SCHAAP

Auf dem Franziskushof liegt alles in tiefem Schlaf, als die Glocke zum Morgengebet ruft. Nach einer Weile treten drei Männer vor ihre Holzhütten und schlurfen verschlafen zum Hauptgebäude. Ein paar Stufen führen sie hinab in den Keller, wo sich zwischen feuchtem Gemäuer die Kapelle befindet. Die Männer setzen sich auf eine Holzbank und greifen zu den Gesangsbüchern. Als das erste Morgenlicht durch die Buntglasfenster ins Kellergewölbe fällt, stimmt der Laienpriester das „Gloria in excelsis“ an, die drei Männer fallen ein. Die anderen neun Bewohner des Hofs kümmert das nicht, sie bleiben in ihren Betten. Denn dies ist kein gewöhnliches Kloster, und die Männer sind keine Mönche, sondern Obdachlose, ehemalige Junkies, Alkoholiker und Gefängnisinsassen.

Die Ersten kamen 1993 auf den Hof bei Zehdenick, einem kleinen Örtchen nördlich von Oranienburg. Damals ließ der Franziskanerbruder Thaddäus den verfallenen Bauernhof mit Unterstützung der altkatholischen Kirche renovieren. Die Obdachlosen halfen die Dächer der Ställe auszubessern, die Kapelle im Keller des Haupthauses und den Kirchensaal im Dachgeschoss einzurichten. So entstand der Franziskushof, der mönchisches und bäuerliches Leben verband und bis heute ein in Deutschland einzigartiges Obdachlosenprojekt ist.

Uwe Minsen* ist seit zwölf Jahren Mitglied der Franziskushofgemeinschaft. Wie jeder Bewohner hat er eine Aufgabe. Während die einen in der Küche Schnitzel klopfen, die im Klosterstübchen Gästen aus der Umgebung angeboten werden, besorgen andere den Haushalt. Uwe kümmert sich um die Tiere. Er tritt aus dem Hühnerstall, den er gerade ausmistet, lehnt die Heugabel an die Bretterwand und dreht sich eine Zigarette. Sein scheuer Blick wandert über das Hofgelände, als würden seine Augen nach all den Menschen und Tieren suchen, die hier einst lebten. „Unter Bruder Thaddäus waren wir zeitweise 35 Mann. Aber da gab es ja auch noch eine Menge zu tun. Vor allem mit den Schweinen.“ Minsen zeigt auf das Schlachthaus. Früher verarbeiteten die Obdachlosen das Schweinefleisch zu Leberwurst und Räucherschinken, verkauften beides auf Märkten und in den Berliner Hofläden.

Doch trotz dieser Betriebsamkeit konnte sich der Hof finanziell nicht halten. Unbezahlte Rechnungen stapelten sich auf den Bürotischen, bis die Absender der Rechnungen ein Insolvenzverfahren beantragten. Vor neun Monaten überließ Bruder Thaddäus dem neu gegründeten Trägerverein Franziskushofgemeinschaft e. V. den Hof samt Rechnungen und ging. Sein direkter Nachfolger meldete die Hofbewohner beim Arbeitsamt an, um ihnen wenigstens die Grundversorgung durch Hartz IV zu sichern. Weitere Ideen zur Rettung des Hofs hatte er nicht.

Vor drei Monaten nahm Franz Fuhg das Schicksal der Gemeinschaft in die Hand. Derzeit finanziert sich der Hof vornehmlich über die Miete, die die Obdachlosen von ihrem Hartz IV bezahlen. „Das reicht zum Leben, aber nicht zum Überleben“, bilanziert Fuhg. Auch er war einst Franziskanermönch. Heute ist er noch Mitglied der katholischen Kirche, hat sich aber längst anderen Glaubensrichtungen geöffnet – vor allem dem Buddhismus. Das merkt man auch seinem Konzept für den Franziskushof an, das er dem Insolvenzverwalter Ende März vorlegen muss und das den Hof retten soll. „Was mir vorschwebt, ist ein Kloster auf Zeit. Wir suchen Menschen, die in unserer Gemeinschaft beten und arbeiten wollen; die vielleicht Entspannung suchen von ihrem Beruf oder ihrem Leben einen neuen Anstoß geben wollen“, erklärt Fuhg. Gäste sind eingeladen, in der Hofgemeinschaft den Lebenswandel eines Mönchs zu führen. Für ihren Aufenthalt sollen sie je nach Höhe ihres Einkommens bezahlen.

Fuhg denkt dabei nicht an einen mönchischen Lebenswandel nach dem Vorbild des Franz von Assisi – obwohl der noch Patron der Gemeinschaft ist. Ihm schwebt ein Lebensstil vor, wie ihn Zen-buddhistische Mönche pflegen. Die Teilnehmer des „Klosters auf Zeit“ sollen also nicht auf Holzbänken beten, sondern im Lotussitz meditieren.

Das neue Konzept erfordert einige Umbauten auf dem Hof. „Der Kirchensaal soll zum Dojo werden, dem Zen-buddhistischen Meditationsraum“, erklärt Fuhg, während seine Hand über die dunklen Holzbänke und den schlichten Altar gleitet. Durch das große Glasfenster des Kirchensaals zeigt er auf die Bungalows, die noch die Obdachlosen beherbergen. „Die Hütten lasse ich renovieren, dann können die Teilnehmer der Sesshins, also der Meditationskurse, dort schlafen und die Obdachlosen im Haupthaus.“ Ansonsten soll sich am Leben der Hofbewohner nichts ändern. Nach Fuhgs Plänen werden sie hier weiter zusammenessen und -arbeiten.

Für die anstehenden Renovierungen wartet Fuhg noch auf Spendengelder, die aus der Kasse der altkatholischen Kirche oder den Taschen der Hofbesucher fließen sollen. Mit dem Umbau des Kirchensaals hat er indessen schon begonnen. „Ich hab erst mal alles entrümpelt.“ Das „Gerümpel“ stapelt sich in einem der Bungalows: dicke Wachskerzen, Bilder eines gen Himmel schmachtenden Jesus und einer verklärten Maria, Kerzenständer und anderes Kircheninterieur. „Manche Leute brauchen das, ich nicht“, sagt Fuhg lächelnd. Auch auf die Bibel kann er gut verzichten. „Die Sprache ist mir zu geschwollen. Hätte Jesus wirklich so geredet, hätte ihn keiner verstanden.“ Leichter zu verstehen, findet Fuhg, sind die Lehren der alten Zen-Meister: „Als ein junger Schüler seinen Meister gefragt hat: ‚Was soll ich tun?‘, hat der erwidert: ‚Hast du gefrühstückt?‘ – ‚Ja, Meister,‘ sagte der Schüler. ‚Na, dann wasch deine Essschüssel!‘ “

Draußen auf dem Hof hat Minsen den Hühnerstall mittlerweile ausgemistet und wischt sich die Hände an der dreckigen Daunenjacke ab. Auch er hat Zukunftspläne. „Es ist jetzt so weit, dass ich wieder auf eigenen Beinen stehe. Deswegen mache ich bald in Oranienburg eine Ausbildung zum Sicherheitsmann.“ Fuhgs Vision von Obdachlosen, die mit gestressten Bankern gemeinsam an der Tafel des Speisesaals sitzen oder mit jugendlichen Backpackern Hühner füttern, wird Minsen nicht mehr erleben. Ob die Franz-von-Assisi-Statue an der Hofausfahrt diese Zeit erleben wird, weiß nur der Himmel.

*Name geändert