: Keine Zukunft im Miniatur-Ischl
Die Stadt Petrópolis, ehemalige Sommerfrische von Kaiser Pedro II., ist einer der schönsten Aufenthaltsorte in der Nähe von Rio de Janeiro. Ausgerechnet hier nahmen sich der Schriftsteller Stefan Zweig und seine Frau 1942 nach anfänglicher Begeisterung für Brasilien das Leben
Petrópolis lässt sich von Rio aus in einem Tagesausflug besuchen. Vom Busbahnhof fahren alle 30 Minuten Busse in 1,5 Stunden dorthin. Übernachten: Pension Pousada da Alcobaça, Corrêas, Telefon +55-2 42 21 12 40, www.pousadadaalcobaca.com.br Gute brasilianische Küche gibt es im Hotel-Restaurant Solar do Império, Avenida Koeler 376, Telefon +55-24-21 03 30 00, www.solardoimperio.com.br Die Casa Stefan Zweig in der Rua Gonçalves Dias 34 ist bislang nur von außen zu sehen. Sehenswert sind ansonsten: der Kaiserpalast mit dem Museu Imperial (Rua da Imperatriz, Di.–So. 11–17.30 Uhr, www.museuimperial.gov.br Die neugotische Kathedrale, der Kristallpalast und das originelle Haus des Flugpioniers Santos Dumont (Rua do Encanto 22, Di.–So. 9.30–17.30 Uhr). Literatur: Zweig-Biografie „Tod im Paradies“ von Alberto Dines, Edition Büchergilde. Weitere Informationen: Brasilianisches Fremdenverkehrsamt in Frankfurt, Tel. (0 69) 21 97 15 57, www.braziltour.com
VON ULRIKE WIEBRECHT
Zwei Fachwerkgiebel, die aus dichtem Grün hervorlugen, ein rauschendes Bächlein und dahinter Berge: Fast sieht es aus wie im Schwarzwald, wäre da nicht die tropische Vegetation. Bananenstauden, Bromelien und üppige Bougainvilleen umwuchern die Veranda des Farmhauses, im Garten stehen Bambussträucher und Palmen. Der Landsitz ist typisch für die Bebauung von Petrópolis, das etwa siebzig Kilometer von Rio de Janeiro entfernt im gleichnamigen Gebirge liegt.
Vor Jahrhunderten siedelten sich hier Deutsche, Schweizer und andere Europäer an und prägten mit ihrem Baustil das Stadtbild. Zu Häusern im Fachwerkstil gesellen sich stattliche Villen, wie man sie auch an der Côte d’Azur oder in Südengland finden könnte. Dazwischen Springbrunnen, Parkanlagen und gepflegte Gärten. Es lebt sich gut hier oben. Die Luft auf achthundert Metern Höhe ist auch im Hochsommer noch erfrischend. Nachts bleibt man auch von der schwülen Hitze der Küste verschont. Und wer nach etwa eineinhalb Stunden Fahrt auf kurvenreicher Straße in Petrópolis ankommt, hat die Hektik des stickigen Rio schnell vergessen. Kein Wunder, dass der Ort im 19. Jahrhundert zur Sommerfrische der brasilianischen Kaiser wurde!
Dafür ließ sich Dom Pedro II. um 1845 von Baumeister Friedrich Köler den neoklassizistischen Palácio Imperial errichten, in dem zwischen prunkvollen Möbeln und Porträts der kaiserlichen Familie noch immer die mit 639 Brillanten besetzte Kaiserkrone aufblitzt. Zwar ist Petrópolis inzwischen eine Stadt mit rund 300.000 Einwohnern, zu den verspielten Villen ist so manches Hochhaus gekommen. Aber noch heute verbringen hier viele wohlhabende Cariocas, wie die Bewohner von Rio heißen, gern ihre Wochenenden. Wobei sie jetzt verstärkt dem Wandern, Klettern, Reiten, Mountainbiken und Canyoning nachgehen. Schließlich wurde die Region mit dem Nationalpark Serra Órgãos für den Ökotourismus erschlossen. Der spielte noch keine Rolle, als Stefan Zweig 1941 hierher kam. Und der Österreicher ließ sich hier auch nicht unbedingt nieder, weil das damalige „Kurörtchen“, das „Sommerresidenzchen“ des Habsburger-Abkömmlings Dom Pedro für ihn eine Art „Miniatur-Ischl“ darstellte. Immerhin kam er als Jude auf der Flucht vor den Nazis nach Brasilien. Jahrelang war er von einem Exil ins andere geirrt, nun hielt er Ausschau nach einer Bleibe in angenehmem Klima, wo er zur Ruhe kommen würde. „Heute glücklich übersiedelt“, schreibt er Ende 1941 an seine erste Frau Friderike in New York. „Es ist ein winziges Häuschen, aber mit großer gedeckter Terrasse und wunderbarem Blick, jetzt im Winter reichlich kühl (?) Aber endlich ein Ruhepunkt für Monate und die Koffer verstaut?“
Er hat einen bescheidenen Bungalow in der Rua Gonçalves Dias 34 gemietet. Zwei Zimmer, Küche, Bad, Veranda: kein Vergleich mit dem Schlösschen, das er in Salzburg bewohnte. Doch liegt er im Stadtteil Valparaíso – im Paradiestal. Und für ihn ist Petrópolis auch eine Art Paradies. Wie das ganze Land.
Das erste Mal war der Schriftsteller 1936 nach Brasilien gekommen. Anlass war eine Tagung des PEN-Clubs in Buenos Aires. Was er damals erwartete? „Irgend eine der südamerikanischen Republiken, die man nicht genau voneinander unterscheidet, mit heißem, ungesundem Klima, mit unruhigen politischen Verhältnissen und desolaten Finanzen, unordentlich verwaltet und nur in den Küstenstädten halbwegs zivilisiert.“ Doch kaum läuft sein Schiff in den Hafen von Rio de Janeiro ein, ist er begeistert. „Die Schönheit dieser Stadt, dieser Landschaft lässt sich wirklich kaum wiedergeben“, schwärmt er. Als offizieller Gast des Außenministeriums wird er mit entsprechenden Ehren empfangen und im Hotel Copacabana Palace untergebracht, das damals wie heute erste Adresse der Stadt ist. Dann folgen Empfänge, Gala-Diners und Lesungen, bei denen er ausgiebig gefeiert wird. In Brasilien war der Autor der „Sternstunden der Menschheit“ immerhin der meistübersetzte zeitgenössische Autor. Ihm schlägt eine Welle der Sympathie entgegen, die ihn wiederum für Land und Leute einnimmt. „Brasilien ist unglaublich, ich könnte heulen wie ein Schlosshund, dass ich hier weg soll“, notiert er nach zwölf Tagen und nimmt sich vor, möglichst bald wiederzukommen.
1940 ist es so weit. Inzwischen ist der Zweite Weltkrieg in vollem Gang. Der Schriftsteller hat sein Domizil in Salzburg aufgeben müssen und in England Zuflucht gesucht. Lotte, die vorher nur seine Sekretärin war, ist jetzt seine angetraute zweite Frau. Brasilien könnte jetzt vielleicht zu ihrer neuen Heimat werden – und zum Thema eines nächsten Buchs. Ob er, als er „Brasilien – ein Land der Zukunft“ in Angriff nimmt, auch seine eigene Zukunft im Blick hat?
Jedenfalls reist er herum und recherchiert, beendet das Buch in New York und kommt Ende des Jahres zurück, um sich – mit der dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung in der Tasche – in Petrópolis einzumieten. Hier, in der Abgeschiedenheit des Gebirges, will er sich neuen Buchprojekten über Montaigne und Balzac widmen. Doch die Rechnung geht nicht auf.
Zwar ist das Ehepaar bezaubert von der Freundlichkeit der Menschen, sieht in ihnen die Verkörperung von Humanität und gelebter Toleranz. Doch die Verständigung ist schwer, die Kost ungewohnt und die Luftfeuchtigkeit tut der asthmakranken Lotte nicht gut. Noch schwerer wiegt, dass Stefan Zweig auf den Austausch mit Freunden und eine gute Bibliothek verzichten muss. Völlig unerwartet gerät er zudem mit seinem inzwischen veröffentlichten Buchs „Brasilien – ein Land der Zukunft“ in die Kritik. Die einen werfen ihm vor, es sei ein Lobgesang auf die Regierung des Diktators Getúlio Vargas, die ihn dafür bezahlt hätte. Die anderen wiederum bemängeln, dass das Land in seinen Betrachtungen zu schlecht wegkäme. Hatte er darin nicht von den malerischen Favelas und den liebenswerten alten bondes, den Trambahnen, geschwärmt, anstatt die neuen Hochhäuser und Fabriken herauszustellen? Gewiss, es gibt fragwürdige Sätze wie den, dass „ein Jahr unter der Ära Getúlio Vargas’ heute, 1940, mehr leisten (könne) wie ein Jahrzehnt unter Dom Pedro II. 1840“.
Zweig mag das Land aus seiner Verzweiflung heraus idealisiert haben. Doch musste ihm Brasilien im Vergleich zu Deutschland wie ein vorbildliches Gegenmodell erscheinen. „Wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen?“, fragt der Pazifist und fährt fort: „Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien.“
Er fühlt sich mit seiner Liebeserklärung an Brasilien gründlich missverstanden, einsam und isoliert. Immer wieder klagt er in Briefen an Freunde über seine „schwarze Leber“, Synonym für Melancholie und Depressionen. Hinzu kommt die beunruhigende politische Entwicklung. Vor allem der Fall Singapurs Anfang 1942 ist für ihn ein tiefer Schock. Gleichzeitig muss er erfahren, dass brasilianische Schiffe von deutschen U-Booten versenkt werden. Wie sicher ist er noch in seinem Paradies? Ist es überhaupt ein Paradies? Oder vielmehr die Hölle? Seine Stimmung verdüstert sich. Am 22. Februar nehmen er und seine Frau Gift, am nächsten Tag werden sie von Hausangestellten in ihrem Bett gefunden: er mit gefalteten Händen, sie seitlich an ihn geschmiegt, als würden sie beide schlafen.
In einer Erklärung, die er hinterlässt, dankt er noch einmal dem brasilianischen Volk für seine Gastfreundschaft. „Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.“ Doch ist er zu erschöpft für einen Neuanfang und schließt: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!“
Heute erinnert eine unscheinbare Gedenktafel vor dem Haus in Petrópolis an ihn. Die Casa Stefan Zweig selber ist leer und verschlossen, ringsum sind neue Bungalows und Mietshäuser die grünen Hänge hoch gewachsen, darunter braust der Verkehr. Doch zum Ende dieses Jahres soll aus dem ehemaligen Wohnhaus ein Museum werden. Ein Verein unter Vorsitz des brasilianischen Journalisten Alberto Dines, der auch Autor der beeindruckenden Zweig-Biografie „Tod im Paradies“ ist, hat dafür das Grundstück erworben. Nun wird es hergerichtet, um künftig mit Fotos, Büchern, Zweigs Totenmaske und anderen Exponaten das Schicksal der Exilanten zu veranschaulichen.
Für viele wurde Brasilien tatsächlich zum Land der Zukunft, für Zweig stattdessen zur Endstation. Ausgerechnet der Ort Petrópolis, sein Miniatur-Ischl, das noch heute eins der schönsten Ausflugsziele von Rio ist.
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