: Die Berührung in der Tiefe
Märchenhafte Wanderung: Der ungarische Dichter Béla Balázs ist im deutschsprachigen Raum fast nur als Autor der ersten, 1924 erschienenen Filmtheorie „Der sichtbare Mensch“ bekannt. Zurzeit aber werden auch seine vielen brillanten literarischen Texte wiederentdeckt. Ein Porträt
von OLIVER PFOHLMANN
Dieser Tage lassen sie sich wieder weit weg transportieren, die Millionen nach Urlaub und Sonne hungernden Seelen, nach Ibiza, Mallorca oder auf die Kanarischen Inseln. Man möchte ihnen allen Béla Balázs’ Fantasie-Reiseführer ins Gepäck geben, in dem es heißt: „Unsere schnellen Verkehrsmittel haben den Raum gefressen und ihn zur Zeit verdaut. Unser Leben ist abstrakter, wir sind um eine Dimension ärmer geworden.“
Ein Ankommen in der Ferne kennt dieser 1925 erschienene „Baedeker der Seele“ für Sommerfrischler nicht, und wer nach zwei oder drei Wochen den Rückflug antritt, den straft er mit Verachtung. Dagegen lobt er den Zustand eines unaufhörlichen Unterwegsseins, ein Leben wie auf ewiger Wanderschaft durch freundliche Weiten. Solch ein „geborener Fremdling“ und „Wanderer“, der sich allem gleich fern hält und daher „Menschen und Dinge bedeutsamer und tiefer erlebt als die andern“, müsste gar nicht wirklich reisen; ja, er bräuchte nicht einmal sein Zimmer zu verlassen, schreibt Balázs: Nur „Menschen, die nicht die Vitalität aufbringen, über jede Stunde wie über ein neues Wunder zu staunen, brauchen den äußeren Reiz, die Injektionen der Reiseeindrücke, um nicht einzuschlafen. Der stumpfste, phantasieloseste unter allen Menschen muß der Globetrotter sein.“ Angst hat Balázs’ Wanderer nur vor einem: Dass er die Menschen und Dinge einmal nicht mehr auf schützende Distanz halten kann. Denn ein solcher Flaneur des Lebens „verhält sich anders zur Außenwelt. Man hat die Scheuklappen der vorgesteckten Ziele abgeworfen […] Man hat sich entblößt vor Zufall und Möglichkeit, in verliebter Sehnsucht.“ Für Balázs heißt Reisen „sich darbieten“. Heißt ein anhaltendes „sich Aufsparen“ und frühlingshaftes Warten.
Allzu wörtlich brauchte man es ja nicht zu nehmen: Notorisch treulos, wie der Wanderer nun einmal ist, stürzte sich Balázs, der Schwärmer und Erotomane, in immer neue Affären und lebte zeitweilig mit zwei Frauen zusammen. Er pries die Überwindung überkommener Beziehungsformen – und ernüchterte angesichts der Unmöglichkeit, neue zu verwirklichen. Im Tagebuch von 1914 schreibt er: „Man kann in einem Moment nur in ein Augenpaar schauen, deshalb blickt man zu dritt immer nach oben. Die Ekstase zu dritt kann nur religiös sein.“
Vielleicht veranschaulicht eines seiner schönsten Feuilletons, „Nachts im Zug“, am besten, was mit einem Leben, das seine „Ruhe nur im Wechsel“ findet, gemeint ist: In der schaukelnden Dämmerung des Abteils sieht Balázs fremde Menschen schlafen. Sieht eine erschöpfte Frau ihre Schuhe ausziehen und ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes betten. Die Intimität der Situation lässt im heimlichen Beobachter ein melancholisches Gefühl von Solidarität entstehen, von Schicksalsgemeinschaft. Und die Gewissheit, sich ganz einer sorgenden, gütigen Macht anvertrauen zu können. „Und wenn der Morgen dämmert, schaut man auf neblige, nasse Felder und ist woanders. Man ist nicht gefahren. Man ist eingeschlafen und woanders aufgewacht. Wie im Märchen.“
Einer märchenhaften Wanderung glich auch das Leben dieses ungarischen Dichters, der im deutschsprachigen Raum fast nur noch als Autor der ersten, 1924 erschienenen Filmtheorie „Der sichtbare Mensch“ bekannt ist und dessen literarische Texte gerade wiederentdeckt werden. Geboren am 4. August 1884, wuchs er unter dem Namen Herbert Bauer als Sohn eines jüdischen Lehrers in dem Städtchen Löcse in den Karpaten auf. Bereits die Kindheit, wie Balázs sie in seiner Autobiografie „Jugend eines Träumers“ (1942) beschreibt, ist voll von Abenteuerfahrten und Initiationserlebnissen. Schon früh macht er die Erfahrung, Zeit als etwas räumlich Begehbares zu erleben: „Nein, nichts, was gewesen ist, vergeht. Ich selbst vergehe, verreise. Die Geschehnisse aber bleiben wie Städte, die man für immer verlassen hat. […] zuweilen hört man sie wie ein leises Gespräch verstorbener Freunde, die auf Wiederkehr warten.“
Einer fortgesetzten Abenteuerreise durch Räume der Geschichte gleicht auch der weitere Lebensweg: Im Vorkriegseuropa gelangt der Student erst ins Privatseminar Georg Simmels in Berlin, dann zu Henri Bergson nach Paris; Vitalismus und Neuromantik prägen seine frühen Texte wie die seines „Waffenbruders“ Georg Lukács. Den Ersten Weltkrieg erlebt er wie so viele als ekstatischen Aufbruch, nicht anders die folgende Rätediktatur in Ungarn. 1919 entkommen er und seine Frau dem Terror der Konterrevolution auf einem Schiff nach Österreich. In Wien wird der Emigrant Film- und Theaterkritiker, schreibt Feuilletons für die neu gegründete Wiener Zeitung Der Tag und schließt Freundschaft mit Alfred Polgar. Balázs’ Filmtheorie, in der er im (Stumm-)Film den Wegbereiter einer neuen visuellen Kultur erkennt, wird von seinen Zeitgenossen wie eine Offenbarung aufgenommen. „Er erzählt wie ein Jäger“, feiert Robert Musil den Filmkritiker, „der sich herangeschlichen hat, vom Leben der Filmstücke, die in endlosen Rudeln durch unsere Kinos ziehn, aber beschreibt sie gleichzeitig als erster Anatom und Biologe. Und indem er dies tut, immer gleichzeitig im Erlebnis und in der Reflexion, schafft sein ungewöhnliches Talent auf dem wüsten Gebiet der Filmkritik ein unerwartetes Paradigma auch für die Kritik der Literatur, die er überall dort berührt, wo er den Film von ihr abgrenzt.“
Weniger erfolgreich sind die Jahre in Berlin nach 1926, sein Ruhm als Filmkritiker reicht nicht aus, um sich in der Metropole als Drehbuchautor und Regisseur durchzusetzen. Verstrickt in unselige Auseinandersetzungen wie den „Dreigroschenprozess“, wagt Balázs, der Romantiker und Idealist, für den der Kommunismus nie Politik, sondern stets ein „metaphysischer Glaube“ war, 1931 einen Neuanfang in Moskau. Erfolg ist ihm auch dort nicht beschieden: 1936 wirft man ihm vor, Trotzkist zu sein, bald darauf wird sein Bruder verhaftet. Fünf Jahre später flüchtet er sich mit seiner Frau vor den deutschen Truppen nach Kazan in der Tatarischen Republik. „Chinesische“ Märchen hatte Balázs, der als Autor auch zeitlebens zwischen den Gattungen und Genres wanderte, bereits 1919 geschrieben, da konnte er noch nicht ahnen, dass es ihn einmal unfreiwillig bis nach Alma Ata an der Grenze zu China verschlagen würde.
In seinem Roman „Unmögliche Menschen“ (1929) lässt Balázs eine Figur sagen: „Man spricht von Weg und Ziel und Schicksal. Von den letzten Dingen. Aber gerade weil man in der Tiefe sich berührt, braucht man nicht an der ganzen Oberfläche aneinander zu kleben.“ Einmal einen Menschen oder ein Ding zu nah an sich herankommen zu lassen, die schützende Fremdheit zu verlieren, wie eine Fliege der klebrigen Intimität auf den Leim zu gehen – für Balázs’ Wanderer ist dies die größte, die einzige Gefahr. „Bist du ein Fremdling, so tust du gut daran, weiter zu wandern, um Distanz zu halten. Denn das Gemüt ist klebrig, und leicht entsteht die Lüge einer Scheinheimat. / Wandere weiter und bleibe fremd.“ Der Wanderer huldigt deshalb wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“ allein dem Möglichkeitssinn: „Kein Sein hat der Wanderer, nur ein Werden, und seine Seele ist wie das freie Rad, das wankt und fällt, wenn es nicht rollt. Vielleicht sind solche Wanderseelen die Räder, auf denen die Welt, die auch noch lange nicht fertig ist, weiterkommt.“
Der Balázs-Biograf Hanno Loewy erkennt in der Figur des Wanderers den Typus des Philobaten wieder. Während sich nach der Theorie des Psychoanalytikers Michael Balint dessen Pendant, der Oknophile, ängstlich an den Objekten festklammert, bewegt sich der Philobat berauscht durch unendliche Weiten und weicht näher kommenden Objekten, im Vertrauen auf seinen Sehsinn, aus. „Der Wanderer ist einer, der nie fertig ist“, unterrichtet der Fantasie-Reiseführer. „Er wird selbst anders und verläßt seine Umgebung, um nicht innerlich im Geheimen treulos zu werden. Damit sein Verhältnis zu den Menschen und Dingen bleibt, muß er gehen. Ihr könnt ihn nicht einwickeln in eure wärmste, weichste Liebe. Er wird sich entwickeln.“
Nach Hanno Loewy führte die Erfahrung der Entfremdung den jüdischen Intellektuellen nach 1900 zu der Idee eines permanenten Übergangs- und Schwebezustandes zwischen Leben und Tod, einer von Angstlust und der Suche nach Flow-Zuständen geprägten Dauerinitiation. Dieses Ideal einer anhaltenden Grenzerfahrung erklärt auch Balázs’ Engagement für das neue Medium Film, ermöglicht doch die Kamera dem sich allmächtig fühlenden Zuschauer ein berührungsfreies Schweben durch unendliche Räume. Zugleich gibt sie den durch die Großaufnahme ihrer Funktionen entrissenen Dingen ihre „Physiognomie“, ihre Bedeutung jenseits menschlicher Zwecke zurück. Es ist die Kamera, die „Menschen und Dinge bedeutsamer und tiefer“ erleben lässt und damit jeden zum Wanderer macht.
Den omnipotenten Blick des Zuschauers, der mit klopfendem Herzen auch den autonom gewordenen Dingen standhält, solange sie nur auf Distanz bleiben, hat Balázs selten aufgegeben. Als Dreizehnjähriger weigerte er sich, den Leichnam des verstorbenen Vaters zu sehen und Abschied zu nehmen. Die vor dem Tod verschlossenen Augen bewahrten ihm den Glauben, der Vater könnte doch noch am Leben sein. Jahre zuvor hatte dieser ihn verprügelt, nachdem der kleine Béla auf Schlittschuhen tollkühn den vereisten Löcseberg hinabgefahren war und sich dabei prompt den Schädel einschlug. Noch in seiner Autobiografie, 1946, ein Jahr nach der Rückkehr nach Budapest und drei Jahre vor seinem Tod veröffentlicht, schwelgt Balázs in jenem „schwebenden Gefühls des lächelnden ‚Sich-Überlassens‘“, das ihn damals bei der halsbrecherischen Abfahrt beseelte.
Sein Fantasie-Reiseführer endet denn auch mit der Utopie, sich einmal rückhaltlos dem Unbekannten anzuvertrauen. Dies allerdings hieße, gerade das aufzugeben, was bis dahin den Wanderer vor allen zu nahe kommenden Objekten geschützt hat: das Sehen. „Es soll Insekten geben, deren Sichtkreis so beschaffen ist, daß sie mit einem Flügelschlag über ihren Horizont hinausfliegen. Jede ihrer Bewegungen ist ein Sturz ins Ungewisse. Sie sind wie Blinde, die nicht wissen können, wohin ihre Schritte führen. Ja, wenn auch uns ein Flügelschlag schon über unseren Horizont schleudern täte, dann müßten wir ein neues, wunderbares Lebensgefühl des ewigen Abenteuers bekommen. Das wäre eine neue Blindheit. Denn die Umgebung, die wir sehen können, wäre nur wie auf die Innenseite unserer geschlossenen Augenlider gemalt. Ein neues Sich-Anvertrauen dem Unbekannten müßte entstehen. Vielleicht würden auch unsere Gesichter dann so schön werden wie die Gesichter der Blinden?“
„Die Jugend eines Träumers“ und der „Baedeker für die Seele“ sind im Verlag das Arsenal, Berlin wiedererschienen
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