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Berlins Partnerstadt

Stanisław Lem bediente 1951 die Zeitmaschine und besuchte die Venus – im Jahr 2003. Dort fand er sich merkwürdigerweise in Berlin wieder. Allerdings lag die Stadt meistenteils in Ruinen

Ob Lems Reisende wussten, dass sie in der Allee der Kosmonauten waren?

von STEFAN KAUFER

Wenn sich bei dem polnischen Sciencefiction-Autor Stanisław Lem gigantische Raumschiffe wie der „Kosmokrator“ oder die „Eurydike“ durchs unendliche Weltall schieben, hat das wenig mit Laserstrahl-Action und viel mit philosophischen Seinsfragen zu tun. Und richtig poetisch wird es dann, wenn er Welten beschreibt, die wie eine Mischung aus Bildern von entlegenen Gesteins- und Kristallformationen und Fantasien über die Umgebung des Ungeborenen im Mutterbauch anmuten.

In seinem ersten Roman von 1951, mit dem er berühmt wurde, kommt jedoch noch eine an Nostradamus gemahnende Komponente hinzu. Dies muss jedenfalls ein in Berlin wohnender Leser von „Der Planet des Todes“ so empfinden, der mit wachen Augen durch seine Stadt geht. Als im Buch nämlich eine Delegation von der Erde auf der Venus angekommen ist, stellt sie bald fest, dass sich die Bewohner dieses Planeten in einem infernalischen Atomkrieg selbst ausgelöscht haben.

Doch eine ihrer Städte steht noch – allerdings größtenteils nur in Ruinen. Als hätte Lem die deutsche Hauptstadt von 2003 – in diesem Jahr spielt der Roman auch – bereits Anfang der Fünfziger visionärsgleich vor Augen gehabt, lässt er seine Astronauten dann bei ihrer ersten Erkundungsfahrt in einem „Gefährt auf Raupenbändern“ auf der Venus eine Welt entdecken, die unserem heutigen Berlin stark ähnelt.

„Die Stadt …“, flüstert der Held bewegt und drosselt „unwillkürlich den Motor“, als er ihre ersten verschwommenen Silhouetten erkennt. „Fahren wir weiter?“, fragt er stockend seinen Beifahrer. „Natürlich, dazu sind wir ja von der Erde hierher gekommen“, gibt dieser zurück. Über eine „Allee zwischen senkrechten Lichtern“ – offenbar die Straße des 17. Juni – fährt der Space-Beetle also in die leer gefegte Metropole hinein. „Hier und da“ sind ihm „Bruchstücke und Trümmer“ im Weg. „Ich saß am Steuer, neben mir Arsenjew, der den Strahlungsmesser griffbereit neben sich hatte.“ Hinten befinden sich noch „Soltyk und Reiner“, die sich wegen der schadhaften Piste an dem Strahlenwerfer des Gefährts festhalten. Am Ende der Allee fallen den vier Männern „drei eigenartige Säulen“ auf, die „in gleichem Abstand voneinander“ stehen. Sie müssen am Brandenburger Tor angekommen sein und durchreisen folglich die Stadt von West nach Ost. „Die Säulen trugen Kapitelle, die wie Schnäbel gekrümmt waren.“

Das „kleine Fahrzeug“ setzt seinen Weg durch diese hindurchfahrend fort, und seine Insassen staunen bald über ein Gebäude, das „keine Spur von Türen oder Fenstern“ aufweist. Man befindet sich nun also Unter den Linden und sieht die britische Botschaft aus der seitlichen Wilhelmstraße hervorleuchten. Wenige Fahrminuten später ist schon der Alexanderplatz in Sichtweite. „Die Allee war zu Ende. Wir befanden uns auf einem Platz, der von weißen Häusergiganten umgeben war.“ Die sich in nächster Nähe befindenden „eiförmigen Kuppeln“ deuten auf ein Vorbeischauen bei der ehemaligen Kongresshalle hin, und als der Kleinpanzer zu einer „auf großen Säulen ruhenden Scheibe“ kommt, die „wie das Zifferblatt einer apokalyptischen Sonnenuhr geneigt war“, ist klar, dass wir für einen kurzen Moment bei der Weltzeituhr Pause machen.

Etwas später gelangen die Besucher „in eine enge Durchfahrt zwischen zwei Flügeln eines Riesenbaues“, womit sie unzweifelhaft das Frankfurter Tor erreicht haben. Dass man dann über die ehemalige Stalinallee braust, beweisen die „wahren Fackelzüge hoher und niedriger Lichter“, welche die Chaussee üppig beleuchten. Die sie flankierenden Gebäude muss man wie bei uns teilweise aber noch dringend renovieren, bevor sie von hippen Leuten aus der Werbebranche bezogen werden können: „Einige waren sonderbar verbeult, verkrümmt und aufgebläht, von den Wänden anderer hingen zur Seite gerollte, zu Röhren, zu Hörnern zusammengedrehte Platten“ herab. Dann gibt das Kettenfahrzeug offenbar Gas und fährt ein gutes Stück weit geradeaus. „Während der endlosen Fahrt überkam mich zuweilen die Vorstellung, dass alles das, was ich bis jetzt gesehen hatte, nichts sei als eine unerklärliche Anhäufung vielfältig gestalteter Mineralformen.“

Doch nach einiger Zeit biegt man links ab und erreicht über die Rhinstraße schließlich Marzahn. Nun kommen die Erdbewohner mithin in das Stadtgebiet, das auch auf der Venus alles bislang Gesehene weit in den Schatten stellt. „Immer grotesker, immer unheimlicher wurden die Formen, an denen wir vorbeifuhren.“ Die Wohnstätten mit ihren „mächtigen Wänden und Wällen“ weisen hier sogar „glühende Platten“ auf, in denen sich „dunkle Knäuel wie zerfetzte Fühler“ winden. Der S-Bahnhof Springpfuhl kann nicht mehr weit sein. „Um uns herum breitete sich eine Einöde aus, in der gewaltige Häuserblocks aufragten.“ Ob Lems Weltraumtouristen wussten, dass sie sich auf der Allee der Kosmonauten befanden?

Das Buch weiß von keinerlei Straßenschildern zu berichten. Stattdessen bewegen sich „plötzlich im Scheinwerferlicht zwei gebeugte Gestalten“. Der Leser hält den Atem an. Immerhin zwei Bewohner von Berlin II haben den Super-GAU überlebt. Sind es die Venusversionen von Wowereit und Sarazzin, die da missmutig durch das nicht eindämmbare Finanzdebakel des hauptstädtischen Ruins ziehen? Sind Udo Lindenberg und Harald Juhnke doch noch ein letztes Mal dabei, eines ihrer apokalyptischen Trinkgelage zu feiern und ziehen gerade von einer Venusfalle des Alkoholausschanks zur nächsten? Doch nein – die „Umrisse zweier Zwerge“ entpuppen sich bei verstärktem Scheinwerferlicht aus dem Mondmobil bloß als „Säulenstümpfe, die zur Hälfte aus dem Schutt hervorlugten“.

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