piwik no script img

„Lagos ist kein Sozialist“

Am 11. 9. 1973 putschten in Chile die Generäle. Der Schriftsteller Luis Sepulveda gehörte zur Leibgarde von Salvador Allende. Ein Gespräch mit ihm über damals und die politische Lage im heutigen Chile

von ANDREAS FANIZADEH und EVA-CHRISTINA MEIER

taz: Wie alt waren Sie, als Salvador Allende und die Unidad Popular 1970 in Chile die Wahlen gewannen?

Luis Sepulveda: Ich war 21 Jahre alt und hatte mich stark in Allendes Wahlkampagne engagiert. Als guevaristischer Linker nahm ich eine verantwortliche Stellung innerhalb der Unidad Popular ein. Aber mein größter Stolz ist es, zur persönlichen Leibwache von Allende gehört zu haben, zur „schrecklichen Gap“ (Grupo de Amigos Personales).

Als der Putsch am 11. September 1973 begann, befanden Sie sich allerdings nicht bei den Gap-Kämpfern, die Allende in seinem Regierungssitz in der Moneda verteidigten?

Nein. Zu diesem Zeitpunkt war ich verantwortlich für den Schutz des Wasserwerks Bizcacha, das Trinkwasser für den Großraum Santiago lieferte. Auf die Wasserversorgung hatten die Rechten immer wieder Anschläge verübt. Mit einer Gruppe schlecht ausgerüsteter Genossen haben wir diese Anlage sechs Monate lang verteidigt.

Aber vom Putsch wurden Sie dennoch überrascht?

Es ging alles sehr schnell. Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass die Regierung zusammenbrach. Trotz unserer revolutionären Ansichten glaubten die meisten von uns, dass auch die Rechten die demokratischen Institutionen des Landes respektieren würden. Chile war schließlich eine alte Demokratie, mit einer 120-jährigen Tradition, trotz einiger dunkler Kapitel.

Wie ist Ihre persönliche Erinnerung an den 11. September?

Ich kam morgens um sechs Uhr vom Wasserwerk nach Hause. Die Straßen waren ungewöhnlich ruhig. Wir hatten sehr konfuse Informationen erhalten. Um etwa halb acht weckte mich meine Freundin und sagte: „Hör mal, das Radio, es passiert etwas Schreckliches.“ Es war noch unter Regierungskontrolle und sandte verschlüsselte Losungen. So wussten wir: Der Putsch war gekommen.

Wie reagierten Sie?

Die Zerschlagung des ersten Widerstandes erfolgte schnell und grausam. Die Putschisten, von den USA instruiert, zerstörten zunächst unsere Kommunikationssysteme, sie bombardierten die Sender. Dennoch beschlossen wir, auf die Straße zu gehen. Im südlichen Sektor Santiagos, in San Miguel, wo ich wohnte, wurde drei Tage lang sehr hart gekämpft. In dieser Zone befand sich der Industriegürtel Santiagos, und die Arbeiter setzten sich erbittert zur Wehr. Aber es war ein Widerstand ohne Koordination. Viele hatten sich bereits abgesetzt, wir hatten kaum Waffen.

Was passierte, wenn man den Putschisten in die Hände fiel?

Die Exekutionen fingen am Mittag des 11. September an. In Santiago stellten sie Schilder auf: „Jeder Widerstand wird mit dem Tode bestraft und vor Ort vollzogen“. Von den 33 Gap-Mitgliedern, die sie lebend aus dem Regierungspalast herausholten, verschwanden 23 spurlos. Nur zehn blieben am Leben.

Was machten Sie, als der Widerstand in der chilenischen Hauptstadt zusammenbrach?

Ich blieb noch bis zum 20. September in Santiago. Mir gelang es, mit Arnaldo Camu Kontakt aufzunehmen. Er war Leiter des militärischen Apparats der Sozialistischen Partei, ein sehr mutiger Typ. Auch er glaubte an die von Radio Moskau verbreitete Propaganda, dass sich im Süden Chiles loyale Truppen um General Prats zum Gegenschlag sammeln würden. Naiverweise formierten wir eine Gruppe von vierzig Militanten, um sie in den Süden zu schicken. Ich ging mit ihnen. Wir gelangten bis Temuco. Die Truppen existierten nicht.

In Temuco wurden Sie dann verhaftet?

Wir kannten in Temuco einige indianische Führer, die uns versteckten. Es war am 5. Oktober 1973, einen Tag nach meinem Geburtstag. Im Morgengrauen wurde das Haus umstellt. Jeder Widerstand war zwecklos.

Wie erging es Ihnen im Gefängnis?

Ich saß sieben Monate in Isolationshaft, in einem Loch ohne jegliche Kommunikation. Danach vergingen zwei weitere Jahre, bis ich dank der Intervention von amnesty international einem Militärgericht vorgeführt wurde. Es war eine totale Farce. Mein Verteidiger war Leutnant der Armee. Ich wurde erst zu „lebenslänglich“, dann zu 28 Jahren Haft verurteilt. Ich war 23 Jahre alt. Und ich hatte schließlich unglaubliches Glück. Diese wunderbare junge Frau von amnesty in Hamburg setzte sich für mich ein. Der Zufall wollte es, dass sie die lateinamerikanische Literatur liebte und ein paar meiner Erzählungen kannte, die in der DDR schon veröffentlicht worden waren.

Das war also die Verbindung, die Sie später für einige Jahre nach Hamburg führte?

Ein bisschen hat das damit zu tun. 1976 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen, lebte kurz im Untergrund und wurde erneut festgenommen. Im Juli 1976 sollte ich über Argentinien nach Schweden abgeschoben werden. Ich wollte aber nicht nach Schweden und blieb zunächst in Argentinien, in Buenos Aires. Ich befand ich mich in einer unmöglichen Situation. Fast alle meiner Freunde waren „verschwunden“, verhaftet oder im Exil. Überall hatte das Militär die Macht ergriffen. In Argentinien, Uruguay. Der Weg nach Brasilien war ebenfalls versperrt. So gelangte ich schließlich über den Landweg wieder auf die pazifische Seite, nach Ecuador. Dort war die Diktatur vergleichsweise harmlos. Für viele Südamerikaner war Ecuador eine Rettungsinsel, um die weitere Flucht vorzubereiten.

Und dann beschlossen Sie, nach Nicaragua zu gehen?

Die Sandinisten bereiteten in Nicaragua ihre Schlussoffensive vor. Zusammen mit anderen lateinamerikanischen Genossen sowie einigen europäischen beschlossen wir, sie zu unterstützen, und gründeten die Brigade Simón Bolívar. Im Februar 1979 reisten die ersten zwei Kampfeinheiten nach Nicaragua, ich folgte mit einer im Mai. Wir hatten natürlich immer die Absicht, den Widerstand in Chile zu organisieren und dorthin zurückzukehren. Aber Nicaragua war 1979 viel attraktiver. Für einmal hatten wir die Möglichkeit, den Himmel mit den Händen zu berühren. Die ließen wir uns nicht entgehen, und wir haben gesiegt.

Nach der Revolution haben Sie Nicaragua aber schnell wieder verlassen. Warum?

Der verkappte Stalinismus der sandinistischen Führer gefiel mir nicht. Mir gefielen ihre Vorurteile nicht, gegenüber allem, was sie nicht kannten. Sie konnten Trotzkisten nicht leiden, ohne zu wissen, was Trotzkisten sind. Sie hassten Anarchisten, ohne einen zu kennen. Und sie folgten den Ratschlägen der Kubaner, als ob diese eine Bedienungsanleitung für die Revolution in der Tasche hätten. Wir vom Conosur (Chile, Argentinien, Uruguay) waren keine Heiligen, aber wir hatten eine sehr strenge Moral, die für alle galt. Niemand durfte sich etwas aneignen, was ihm nicht zustand. Zwei Monate nach der Machtübernahme begannen die sandinistischen Führer bereits, sich die besten Häuser zu sichern.

Sind Sie jetzt nicht arg streng?

Vielleicht. Aber die sandinistische Führung entfernte sich von der Realität einer sehr armen Bevölkerung. Man begann wie im osteuropäischen Sozialismus an die Statistiken einer selbst geschaffenen Wirklichkeit zu glauben. Die Revolutionäre verloren die Fähigkeit zur Selbstkritik. Sehr erschöpft verließ ich Nicaragua im Januar 1980 mit einer Kugel im Körper, die mir in einem kubanischen Militärspital entfernt wurde. Ich verließ Kuba dann und ging nach Europa.

Alle Ihre Romane handeln auf die eine oder andere Weise von Chile und seiner Geschichte, obwohl sie schon lange nicht mehr dort leben.

Vieles geht um Erinnerung. Graham Greene hat einmal gesagt, dass die Kindheit das Kapital eines Schriftstellers ist. In dieser Phase des Lebens setzen sich die Eindrücke am stärksten im Gedächtnis fest. Ich muss zugeben, dass es mir angenehm ist, Geschichten über ein Land zu erzählen, dass es so heute nicht mehr gibt. Es sind Erzählungen über eine Erzählung, eine Fiktion der Fiktionen.

Wann sind Sie das erste Mal wieder nach Chile gereist?

Das war Ende 1989, als die Diktatur vorbei war. Ich wollte bleiben, aber die Rückkehr verlief traumatisch. Alles, an was ich mich erinnerte, existierte nicht mehr, und ich wurde melancholisch.

Es gab keine Freunde mehr, Freundschaften, Familie?

Doch, doch, die gab es. Aber das Wunderbarste, was dieses Land einmal ausmachte, eine Gesellschaft mit humanistischen Werte und sozial denkende Menschen, war verschwunden oder absolut minoritär. Jetzt hat sich das wieder etwas geändert. Eine neue Generation hat sich die Fähigkeit zur Kritik wieder angeeignet. Letzten März war ich in Santiago von der Stärke von Attac sehr überrascht. Ohne eine Partei zu sein, können sie spontan 10.000 Menschen mobilisieren. An einer Demonstration gegen den Irakkrieg nahmen fast 20.000 Leute teil. Aber die ganzen Neunzigerjahre in Chile waren schrecklich. Die Mehrheit glaubte tatsächlich, dass sie in einem Siegerland leben würde. Chile, der Tiger Lateinamerikas.

Nun wurde 2000 mit Ricardo Lagos zum ersten Mal wieder ein Sozialist Präsident Chiles. Wie beurteilen Sie diesen Regierungswechsel?

Lagos ist kein Sozialist.

Er kommt aus der Sozialistischen Partei Chiles. Können Sie dem Regierungswechsel nichts Positives abgewinnen?

Nein, nichts. Ich habe Gladys Marín von der Kommunistischen Partei im Wahlkampf unterstützt, auch wenn ich nicht in allen Dingen mit ihr übereinstimme. In der zweiten Wahlrunde haben wir, einige Schriftsteller und Intellektuelle, dann für Lagos gestimmt. Aber mit Ekel, wir wollten in der Stichwahl mit den Rechten unsere Stimmen nicht verschenken.

Ihrer Meinung nach ist diese Regierung also nicht auf dem richtigen Weg?

Diese Regierungskoalition besteht aus Christdemokraten, die ihren Anteil an der Geschichte des Putsches leugnen, und recycelten Sozialdemokraten, die sich an ihre Wurzeln nicht mehr erinnern mögen. Im Grunde wollen sie nur das ökonomische System der Diktatur politisch besser verwalten. Die jetzige Verfassung Chiles stammt in vielem aus der Diktatur und richtet sich nicht nach den Interessen des Landes. Wenn ein wirtschaftliches Modell wichtiger sein soll als die ethischen Fundamente einer Gesellschaft, was soll man dann erwarten? Die Regierung Lagos hat die Auslieferung chilenischer Militärs wegen der Menschenrechtsverbrechen an die ausländische Justiz stets blockiert. Und das Bildungs- und Gesundheitswesen ist privatisiert. Wenn du kein Geld hast, schickst du deine Kinder halt nicht in die Schule und fertig. Wenn du krank wirst und kein Geld hast, dann stirbst du.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen