: Klaustrophobie im Ferienidyll
Alles erscheint so deformiert wie es unter den Bedingungen der Moderne ist: „Rimini -- Redux --“ vom Hamburger Zeichner Dice
von OLE FRAHM
Rimini – ein Name wie ein Versprechen. Strand, Sonne, schöne Menschen. Rimini – irgendwie eine Hoffnung auf ein besseres Leben. Schöne Ferien, deren Zeit einzig durch den Rhythmus der Wellen eingeteilt wird. Rimini – ein Albtraum. Eine Kleinstadt, in die sich Jahr für Jahr Unmengen deutscher Touristen ergießen, um den grauen, kleinen Alltag für eine kurze Zeit vergessen zu können. Rimini - - Redux - - heißt die erste Albumveröffentlichung des Hamburger Comiczeichners Dice, der unter dem Namen DICEINDUSTRIES veröffentlicht.
Seit er sieben ist, fährt der Protagonist mit seinen Eltern in der Vorsaison nach Rimini. Der Vater hatte einen Betriebsunfall, eine Hand fehlt ihm, seine Frau darf trotzdem nicht das Auto lenken. Der Junge ist gezeichnet, als wäre er nicht 18, sondern noch immer sieben, und so fühlt er sich auch: „Bekannte Orte scheinen einen eigenartig zu konservieren, da neuere Erlebnisse immer nur blasse Reprisen der Erinnerung sind.“ Zu dem Text läuft das Wasser in einem seltsamen Schweif aus dem Hahn auf der Toilette der Pizzeria, die sie Abend für Abend aufsuchen. Jedes Jahr erzählt der Wirt Paolo, wie er im Schützengraben sein Bein verlor, und der handlose Vater berichtet von der Folter in der russischen Gefangenschaft. Paolo trat eigentlich als Kind in eine Miesmuschel: „Schlimme Sache. Blutvergiftung. Amputation.“
Die Beobachtungen des Ich-Erzählers sind so trocken wie genau. Gleich, ob er über die Farbe des Meeres („die Farbigkeit des Kondenswassers, das sich im Kühlschrank auf Kochschinkenverpackungen niederschlägt“), Namen von Urlaubsorten auf T-Shirts oder seine triste Situation nachdenkt, nie fällt ein Wort zu viel. So verdichtet sich der Eindruck des Bedrängenden wie Unerträglichen. Zugleich müssen die Worte so präzis sein, denn die Zeichnungen von Dice borden über an Details. Es gibt darin kaum eine gerade Linie. Alles erscheint so deformiert wie es unter den Bedingungen der Moderne ist. Eine Deformation ohne Paradies, ohne Möglichkeit irgendwohin zurückzukehren.
In Rimini fehlen Sprechblasen. Bild und Schrift bleiben streng getrennt. Dies steigert den klaustrophobischen Eindruck und macht die Erfahrung der Tristesse zugänglich, ohne dass es jemals langweilig wird. Zu viel gibt es zwischen den Zeichnungen und den Wörtern zu entziffern, lassen sie sich doch nie auf einen gemeinsamen Gegenstand reduzieren. Die Panels wirken wie Verdichtungen, bilden nicht ab, sondern geben eine Wahrnehmung wieder. Ihre Linien, die Linien der Buchstaben scheinen einzig dem Bewußtseinsstrom des Protagonisten zu folgen. Sie führen uns in die seltsamsten Gegenden und Gedanken. Denn noch die nebensächlichste Beobachtung scheint in der reduzierten Umgebung Riminis Bedeutung zu gewinnen. Unentscheidbar wird, was sich der Held einbildet und was wirklich geschieht.
Diese Technik ist im Comic kaum erprobt und noch seltener gelungen. Oft genug wird es zu banaler Autobiographie eines uninteressanten Lebens oder zum überambitionierten Versuch, Comics literarischen Kunstformen anzudienen. Beides vermeidet Dice souverän. Ein Foto, das dem Comic wie ein Nachtrag beigegeben ist, macht plausibel, warum ihm dies so meisterhaft gelingt: Dice, vielleicht vierjährig, sitzt auf seinem Kinderbett, über dem die Wand von Postern aus der Sesamstraße, von Disneyfiguren und anderen Bildern zugepflastert ist. Die Populärkultur hat ihn bis in seine Träume durchdrungen. Rimini - - Redux - - ist ein Gegenentwurf, der von dieser Durchdringung weiß und sie nicht einfach zu verdrängen sucht, um dann von ihr schrecklich heimgesucht zu werden. Vielmehr geht es um andere populäre Bilder, mit denen andere Träume möglich werden. Träume einer Welt ohne Versprechen, ohne Vergessen, aber mit einem besseren Leben.
Diceindustries: Rimini - - Redux - -. Reprodukt 2003, 10 Euro.
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