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Keiner zum Kuscheln

Verpasst?: Mit Marcel Reich-Ranicki auf Tuchfühlung – ein Porträt des 84-jährigen Bücherpapstes (Sa., 19 Uhr, Arte)

Reich-Ranicki beklagt sich: „Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das Leben manchmal langweilig ist – sehr langweilig.“ Das sagt ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki, der sich eigentlich in dieser Hinsicht nicht beklagen könnte. Diane von Wredes TV-Porträt „Mein Leben“ sammelt jedenfalls haufenweise spannende Indizien, die auf das Gegenteil von Langeweile deuten.

Es ist ein turbulentes, in der Öffentlichkeit gelebtes Leben, in dem sich früh der kommende Außenseiter herauskristallisierte. Als polnischer Jude im nationalsozialistisch „erwachenden“ Berlin. Aber auch sonst, als Mensch. Reich-Ranicki war wohl schon zu Zeiten, als er noch geringelte Tennissocken und riesige weiße Kragen trug, keiner zum Kuscheln. Gescheit, kritisch, bissig. Und was sein Thema – die Literatur – betrifft, wohl auch sehr eitel. Im Film macht der Bücherpapst, unschuldig leiernd und mit sanft anstoßender Zunge, keinen Hehl daraus: „Das ist keine Alterserscheinung, so war ich schon vor fünfzig Jahren.“ Das Rumpelstilzchen der Literaturszene also. Unberechenbarkeit und Gnadenlosigkeit als höchstes Gut. Nicht umsonst heißt eines seiner erfolgreichsten Bücher: „Lauter Verrisse“. Dafür ist er zuständig, dafür bezahlen ihn die Leser und die Sender.

Eine Rolle, die man nur mittels hohen Energieaufwands beibehalten kann und für die er langsam zu alt wird. Was ist mit den alten Gegenspielern? Walser, Grass, Löffler? Manches tut ihm ein wenig leid, er ist jedenfalls nicht nachtragend. Reich-Ranickis persönlicher Rückblick sieht anders aus. Er lässt uns einen seltenen Blick auf die alten Wunden werfen. Das Trauma der Flucht aus dem Warschauer Ghetto, gemeinsam mit seiner Frau Teofila. Die schmerzhafte Erinnerung an ihre Familien, die in Treblinka umgekommen sind. Die wirkliche Essenz eines langen Lebens – Literatur, Preise, Bücher? Nicht der Rede wert. ALBERT HEFELE

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