: berliner szenen Streng helal
Alles aus dem Internet
Es ist spät und ich habe noch Hunger. In der Gegend um das Rathaus Neukölln ist nachts nichts mehr los. An der Bushaltestelle blinkt ein liebloser Dönerstand, die Trinker vorm Lidl prosten mit Plastikflaschen. Nichts, was dich bei der Kälte noch nach draußen locken könnte – wäre da nicht der tunesische Pizzamann in seiner von außen völlig unscheinbaren schmalen Bude. Streng helal: kein Schweinefleisch, nur Softdrinks, dafür offen bis um fünf Uhr morgens.
Eine Calzone, bitte, sage ich, kaum dass ich den Laden betreten habe. Kein Problem, Meister, sagt er. Zwei Minuten. Während er den Teig auswalzt, mit Tomatensugo bestreicht und Champignonscheiben, Putensalami und Käse verteilt, schaue ich auf die Karte. Was für eine Auswahl! Pizza Neukölln mit Suçuk und Scampi, Pizza Ghetto mit frischem Spinat und Chili. Habt ihr eine neue Karte, frage ich?
Nein, die gibt’s schon immer. Es schaut nur nie jemand drauf. Alle kommen rein wie du und sagen: Pizza Calzone. Seit wann bist du hier?, frage ich ihn. 24 Jahre. Immer schon Neukölln? Nein, fünf Jahre Kreuzberg, dann hier. Es hat sich viel geändert hier, sage ich. Ja, sagt er, das Publikum ist anders, viele Studenten. Komisch, sage ich, dass es in dieser Straße trotzdem noch keine Studentenkneipe gibt. Ja, lacht er, nur Wettbüros an jeder Ecke. Und um was wird da gewettet, frage ich. Keine Ahnung, sagt er. Ein anderer Gast, über einen großen Teller Pasta Frutti di Mare gebeugt, schaltet sich in unserer Gespräch ein: Man kann auf alles setzen, sagt er, Fußball, Handball, Pferdederbys, Polo, sogar Hunderennen. Wo finden denn die Hunderennen statt, frage ich, gibt es so was in Deutschland? Er zuckt mit den Schultern. Ich glaube, sagt er, das kommt alles aus dem Internet. TIMO BERGER
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