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Das vergessene Gift

Vor 25 Jahren löste der Tod eines Jungen den Stoltzenberg-Skandal in Hamburg aus – und den Beginn amtlicher Umweltschutzpolitik

Vernachlässigung von Aufgaben, unklare Kompetenzen und mangelnde Kenntnisse

von Friedhelm Schachtschneider

Am 6. September 1979 zerriss eine Explosion in Hamburg einen elfjährigen Jungen. Zwei acht und 13 Jahre alte Spielkameraden wurden schwer verletzt. Sie hatten mit Sprengstoff hantiert – gefunden auf dem Gelände der Firma Stoltzenberg in Hamburg-Eidelstedt. Der Tod des Kindes löste vor 25 Jahren den Stoltzenberg-Skandal aus und brachte zahlreiche Versäumnisse von Firma und Behörden ans Tageslicht.

Stückweise erfuhr die schockierte Hamburger Öffentlichkeit, was dort hinter einem einfachen Drahtzaun nur unzureichend gesichert mitten in der Stadt lagerte. Von dem mit Zinkschlamm verseuchten Boden der Sprengstoff- und Chemiefirma Hugo Stoltzenberg wurden nach und nach hunderte Tonnen gefährlicher Substanzen abtransportiert – darunter auch Granaten mit dem Kampfgas Tabun.

Der damalige Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) sprach von einem „ungeheuerlichen Skandal“. Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft deckte in der Folge eine ganze Serie von Versäumnissen, Fehleinschätzungen und Verniedlichungen tödlicher Gefahren durch unterschiedliche Behörden auf. So hatte die frühere Hamburger Bürgerschafts- und Bundestagsabgeordnete Helga Schuchardt (FDP) bereits im Jahr 1971 nach einer Veröffentlichung des Schriftstellers Günther Wallraff den Senat auf mögliche Kampfstoffe bei Stoltzenberg aufmerksam gemacht. In der Antwort an die Parlamentarierin wurde seinerzeit beschwichtigend auf zahlreiche Kontrollen durch staatliche Stellen hingewiesen.

Der Untersuchungsbericht des Stoltzenberg-Ausschusses kritisierte es später als „unvorstellbar“, dass bei der schon früher als „Klitsche“ bezeichneten Firma von 1945 bis 1979 bei 230 Besichtigungen mehr als 600 Behördenbedienstete auf dem Gelände waren – und nichts unternommen hatten. Als Ursache wurden „mangelnde Kenntnisse von Gesetzen, Vernachlässigung von Aufgaben, unklare Kompetenzen und eine verwirrende Vielzahl von Vorschriften“ genannt. Schon frühere Vorgänge hätten die Behörden zu einer Stilllegung des Betriebes veranlassen müssen, so das Fazit der Abgeordneten.

Frank Dahrendorf (SPD) nahm daraufhin seinen Hut als Justizsenator. Als Innenstaatsrat hatte er 1971 Stoltzenberg noch bescheinigt, „für die Umgebung durchaus ungefährlich“ zu sein. Der von der oppositionellen CDU geforderte Rücktritt von Bürgermeister Klose blieb jedoch aus.

Fast ein Jahr nach dem Tod des Kindes wurde das Strafverfahren gegen den letzten Stoltzenberg-Chef wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des Angeklagten eingestellt.

Ein Verfahren gegen den Vater des getöteten Elfjährigen wegen Verletzung der Aufsichtspflicht wurde ebenfalls eingestellt. Entgegen der Empfehlung des Untersuchungsausschusses verzichtete man auch auf die Einleitung disziplinarischer Maßnahmen gegen etliche Behördenmitarbeiter.

Andere Kritikpunkte des Ausschusses wurden aber aufgegriffen. So bündelte der Senat die Sachkompetenz verschiedener Ämter in der 1980 neu geschaffenen Umweltbehörde. „Stoltzenberg war der Beginn der Altlastensanierung in Hamburg“, erinnert sich der jetzige zuständige Referatsleiter in der Umweltbehörde, Ralf Kilger. Unter der Regie des Kampfmittelräumdienstes wurde „alles Verdächtige aus dem Erdreich rausgesucht und entsorgt“.

Man fand aber nur, wonach man auch suchte, betont Kilger. Die Technik von Bodenanalysen steckte in den 80er Jahren noch in den Kinderschuhen. Nachdem auf dem Gelände und im Grundwasser erneut Kontaminationen festgestellt wurden, musste das Stoltzenberg-Areal darum 1997 mit Millionenaufwand erneut saniert werden.

Was einmal mit dem Grundstück zwischen Volkspark und Autobahn geschehen soll, sei noch unklar. Nach dem Aushub des verseuchten Bodens ist dort seit Jahren eine Vertiefung zu sehen – wie eine Narbe in der Stadt.

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