: Unter Utopieverdacht
Das SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
„Hartz IV ist kein Gefühls- und Gerechtigkeitstest, Hartz IV ist eine zaghafte Aufforderung, Tatsachen zu gewärtigen, also am ehesten noch der Beginn eines sozialen Intelligenztests.“ (Jürgen Kaube, FAZ, 1. 9. 04)
Die tiefe, theoretisch fundierte, also die Feuilleton-Debatte über Hartz IV hat kaum erst begonnen – aber einige Teilnehmer werfen sich schon in der ersten Runde aus dem Rennen. Götz Aly etwa, der, unter dem Einfluss des vermenschlichten Film-Hitlers stehend, in einem rhetorischen Amoklauf (SZ, 7. 9. 04) gleich den gesamten „Umverteilungsstaat“, mit „automatischer Krankenversicherung“ für Rentner, Mindesturlaub, Nachtarbeitszuschlägen, Familienförderung, Kilometerpauschale und staatlichem Unterhalt ohne Abstandsgebot zur Ausgeburt des Nationalsozialismus niederdiabolisiert.
Hitler wird ihm zum braun angestrichenen Kommunisten, die Nazis sind „für sich genommen … keineswegs monströs“, nur als „Medium des politischen Willens der Deutschen“ waren sie verderblich, denn dieser Wille ging schon immer auf den Rundumbetreuungsstaat, inklusive Kündigungs- und Mieterschutz, und diese Versorgungsfantasie sei die „entscheidende Triebkraft für das Verbrechen“ gewesen. Nach dem Prinzip „Ich bin das Volk“ (welche feine Denunziation der Ost-Demonstranten!) habe Hitler „die Konturen des späteren Sozialstaats Bundesrepublik vorgezeichnet – und die Regierung Schröder/Fischer stehe nun vor der heroischen „historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft“.
Nun, „the intellectuals have nothing to lose but their brains“, schrieb Arthur Koestler zu Beginn des Kalten Krieges; manche denken sich dabei zu dankenswerter Deutlichkeit durch, wie Jürgen Kaube mit seinem Aufruf zu neuer Illusionslosigkeit. Völlig richtig stellt er fest, „Arbeitslosengeld II“ sei ein arger Euphemismus, der nur notdürftig die Tatsache verdecke, dass nun auch offiziell drei Millionen Menschen zu „Leuten, die nur noch statistisch als Anwärter auf Arbeit geführt werden“, gemacht werden, zu „dauerhaften Fürsorgefällen“ also. Der Protest richte sich mithin nicht gegen die Höhe der Alimentierung, sondern gegen die Alimentierung als Prinzip, gegen die ökonomische Ausbürgerung durch eine hochproduktive und unterausgelastete Wirtschaft. Die Montagsmarschierer reklamieren die Nation als eine arbeitende Solidargemeinschaft und stützen sich auf das noch nicht ganz verschwundene Menschenbild der Arbeitsgesellschaft, dem zufolge die Identität des Menschen sich an der Arbeit bilde.
Derlei prinzipielle Opposition stützt sich auf moralische Großkaliber wie Menschenwürde, denen mittelfristig schwerer zu begegnen ist als dem Genörgel um mehr Zuwendungs-Euros. Man muss sie schon prinzipiell delegitimieren. Eine „Lebenslüge“ sei diese historische Gerechtigkeitsforderung, schreibt Kaube deshalb: der mit der Würde der Arbeit begründete Anspruch auf die Gleichverteilung von Identitätschancen sei auch nur eine höhere Form der Schnorrerei. Beweis: Die Vollbeschäftigungsgarantie (vorzugsweise diejenige der weiland DDR) lasse Würde erst gar nicht entstehen. Denn: „Was man nicht verlieren und nicht erwerben kann, definiert auch kein Selbst.“ Von diesem Kategorienfehler (der, getreulich der Planstellenlogik folgend, „Beschäftigung“, also die Voraussetzung dafür, sich durch Arbeit zum gesellschaftlichen Individuum zu bilden, mit „Arbeit“ gleichsetzt) dekretiert Kaube empiriefrei, es gehe den greinenden Demonstranten schäbigerweise nur darum, „den Anschein eines bürgerlichen Lebens“, sprich: das durchschnittliche zivilisatorische Konsumniveau, durch den Staat subventioniert zu bekommen.
Weg also mit dem Locke-Hegel-Rathenau-Ludwig-Erhard-Nell-Breuning’schen Gedankenmüll, der doch nur den Blick auf die Welt verstellt, die der Fall ist: „eine widrige Umwelt“ nämlich, der die Individuen allenfalls „Impulse zum Sichdurchschlagen“ entnehmen können, aber keine historisch entstandenen Ansprüche, Solidaritäten oder Gesellschaftsziele mehr. Am Ende des „sozialen Intelligenztests“ hat man zur Kenntnis zu nehmen, dass es deutschen Sozialhilfeempfängern, verglichen mit dem, „was in Haiti herrscht“, noch gold geht, und dass „Portugiesen keine unglücklicheren Menschen sind, nur weil ihnen 156 Staatstheater und bei Übergewicht Rechtsansprüche auf Kururlaub fehlen“, und schließlich und vor allem: dass Ungleichheit etwas Gutes sei, weil nur sie – jenseits der Ein-Euro- Zwangsverpflichtung – „eventuell“ neue Arbeitsplätze schaffe.
Aber stopp! Was nützen derlei ideologiekritische Spekulationen über die historischen Amnesien prekarisierungsbedrohter Mittelstandsdenker, über die „märchenhafte Gier der Mittelschichten“ (Peter Glotz) oder dergleichen mehr. Stimmt ja: die Jahrzehnte des Ausnahmewachstums, die es erlaubten, die alte Klassenfrage durch Zuwächse auf allen Seiten zu suspendieren, sind vorbei; der öffentliche Reichtum, der aus den Lohnsteuern der Vorgenerationen angeschafft wurde, ist verschleudert worden, um die Staatsgläubiger zu bedienen, und die Globalisierung hat die gewerkschaftlichen Instrumente zur Regulierung von (Arbeits-)Märkten und Humanisierung der Arbeit stumpf werden lassen. Am Rande der Produktivitätszonen mit ihren Kernbelegschaften wächst die „Outer-Class“, für deren Zukunft es drei Möglichkeiten gibt: alimentierte Subsistenz gekoppelt mit Alkoholismus, Glotze und Fettsucht und weitgehend sinnlosem staatlichem Arbeitszwang. Zweitens: demokratische Refeudalisierung. Oder eben, drittens, die große Lösung, die trotzig an zwei Jahrhunderte Freiheitserwartung der Arbeitsgesellschaft, an die Einsichten über das Ende des Wachstums, an die Programmatik der „Humanisierung der Arbeit“ und an die Verheißungen der Wissensgesellschaft anknüpft und eine Gesellschaft ins Visier nimmt, die ihre immer noch wachsende Produktivität in mehr Zeit statt in immer mehr Gadgets auszahlt – Hartz Null, die 28-Stundenwoche bei VW in den Neunzigerjahren, hat gezeigt, dass es geht.
Niemand wagt zurzeit, und schon gar kein Ökonom, für diese Lösung theoretisch oder rhetorisch in die Bresche zu springen – Utopieverdacht. Zu groß sind die Hebel (geworden), die man dafür in Bewegung setzen müsste: eine zumindest europäische Regulierung der Rahmenbedingungen für Kapital, Steuern und Arbeitsmärkte, eine gewaltige Bildungsoffensive und eine Bedürfnisrevolution. Eine große Diskussion nicht über Beschäftigung und Fürsorge, sondern über Arbeit, die weder uns noch die Welt zerstört. Eine Wiederbelebung der bürgerlichen Idee, dass Wissen und Arbeit nur die Voraussetzung für ein besseres Leben sind.
In den frühen Tagen der Grünen war dieses Bewusstsein schon einmal da, heute liegen die vielen Taschenbücher in den Antiquariaten, die verbeamteten Kulturrevolutionäre sind müde, und die Gespräche über Arbeit und Leben haben sich an die Küchentische zurückgezogen. Mag ja sein, dass so etwas wie der Kaube’sche Wille zum „Gewärtigen der Tatsachen“ zu Recht davon ausgeht, dass die bürgerliche Aufklärung beendet ist – dann bleiben allerdings nur noch die individuellen Wege der glücklichen Arbeitslosen und der aufgeklärten Nichtwähler.
Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin.
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