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Realität ist Vollkommenheit

Ein Philosoph zwischen allen Stühlen, der in allen philosophischen Kontroversen einen dritten Weg gezeigt hat und dort politisch wurde, wo die äußeren Bedingungen ein Erkennen der Realität unmöglich machen: Die Weimarer Tagung „Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur und Ästhetik“

VON JAN-HENDRIK WULF

Die letzte Einreise in die USA endete für den Schriftsteller Robert Menasse ganz überraschend im kanadischen Toronto. Als er auf dem New Yorker Flughafen Auskunft geben sollte, ob er zum Arbeiten oder zum Vergnügen nach Amerika komme, antwortete er „weder – noch“ und wurde kurzerhand mit dem nächsten Flugzeug wieder abgeschoben.

Die unfreiwillige Episode könnte erklären, warum Menasse auf der Weimarer Tagung „Ein neuer Blick auf die Welt. Spinoza in Literatur und Ästhetik“ in der vergangenen Woche mit einer eher unkonventionellen Selbsteinsicht aufwartete: „Ich bin Spinoza.“ Sich Spinozas Haltung zu Eigen zu machen, heißt für Menasse, sich gegen eine voraufklärerische politische Rhetorik der alternativlosen Schicksalhaftigkeit zu wappnen und gegen militaristische Weltmachtpolitik, Sozialabbau und Lohndumping aufzubegehren: „Aufklärung bedarf eines gesellschaftlichen Subjekts, das eine Alternative eröffnet. Nichts, was der Mensch macht, darf den Charakter einer Naturgesetzlichkeit annehmen.“ Dafür müsse man notfalls eben seinen Lehrstuhl opfern, appelliert er an die überwiegend akademische Hörerschaft. Dort regt sich Widerspruch: „Ich glaube nicht, dass Sie Spinoza sind. Das Faszinierende bei Spinoza ist doch gerade das nichtnormative Denken.“ Doch eigentlich hat Menasse alle Erwartungen erfüllt. Denn es ist gerade Zweck dieser Tagung der deutschen Spinoza-Gesellschaft, den oft eigenwilligen Aneignungsversuchen Spinozas in Literatur und bildenden Künsten nachzugehen und damit alternative Zugänge zum Werk zu finden. Neben Goethe, Heine, Artaud und Borges haben sich auch weniger bekannte Autoren von Spinoza inspirieren lassen. Erstaunlich bei einem Philosophen, der sich in seiner „Ethik“ nicht nur vom cartesischen Leib-Seele-Dualismus absetzt, sondern zugleich den Anspruch formuliert, „die menschlichen Handlungen und Triebe ebenso [zu] betrachten, als wenn die Untersuchung es mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte“. Der Geometer der Leidenschaften mit dem kalten Blick als dichterisches Vorbild?

Für den Philosophen ist das oft ziemlich enttäuschend, wie Claus-Artur Scheier das im Fall von Arno Schmidt zeigt: „Die Welt als Ausfluß GOttes’ Wilma ?: da kannsDe dann ooch SPINOZA gleich mitnehm“ – viel mehr hat Schmidt in „Zettels Traum“ über den Philosophen nicht zu sagen. Scheiers Fazit: Schmidt hat Spinoza gar nicht gelesen.

Doch wie bei so vielem wird man in Joyce’ „Ulysses“ auf der Suche nach Spinoza gleich viermal fündig. Günter Schmidt interpretiert den Roman als Weg zur kreativen Selbstaneignung der Welt und damit als ästhetisches Pendent zu Spinozas Philosophie. Das lässt sich in der Struktur sogar belegen: „Jedes Abenteuer (d. h. jede Stunde, jedes Organ, jede Kunst, die im Strukturplan des Ganzen untereinander verbunden und in Beziehung gesetzt sind) sollte die ihm eigene Technik nicht nur konditionieren, sondern sie auch aus sich heraus erschaffen“, beschreibt Joyce den Aufbau seines Romans. Das ist ganz analog zu Spinozas Ethik. Dort wird die gesamte Natur als ein Individuum beschrieben, „dessen Teile [?] auf unendliche Weisen sich verändern, ohne dass sich dabei das ganze Individuum irgendwie veränderte“. Doch Spinozas spröde materialistische Ontologie scheint die Faszination der Schriftsteller eher selten beflügelt zu haben. Pierre-François Moreau aus Lyon erkennt in Spinozas Leben eine Inszenierung der Negation, die den Philosophen zum Vorbild der Avantgarde machte: Nach seinem Rauswurf aus der sefardischen Gemeinde Amsterdams 1656 wurde Spinoza zum ersten säkular lebenden Menschen der Neuzeit. „Dass ein solches Bild diejenigen verführt, die sich selbst am Rande der Gesellschaft befinden und die aus dem Bruch einen Charakterzug ihres Lebens machen, leuchtet ein“, so Moreau. Eine Ideologie, der zufolge die Suche nach der Wahrheit und dem Sinn im Schreiben und Malen bedeutet, „mit den vorhergehenden Generationen zu brechen“. Faszination liegt aber auch in Spinozas Schriften selbst: in der Intensität seiner eigenartigen, schlichten Schreibweise, einem Stil der Negation, einer beständigen Enttäuschung der Lesererwartung.

Einer produktiven Enttäuschung, wie Manfred Walther, der die deutsche Spinoza-Gesellschaft mit heute rund 200 Mitgliedern 1988 gegründet hat, hinzufügt. Für Walther ist Spinoza der Philosoph zwischen allen Stühlen, der in fast allen philosophischen Kontroversen einen dritten Weg gezeigt hat.

Menasses folgenreiches „Weder-noch“ auf dem Flughafen zeigt sich daher als genuin spinozistisch. Doch auch für eine allzu moralistische Weltdeutung hält Spinozas Ethik eine Enttäuschung bereit: „Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.“ Der direkten Konfrontation ist Spinoza, der eine Tugend der Selbsterhaltung vertrat, meist ausgewichen. Politisch wird er dort, wo die äußeren Bedingungen ein Erkennen der Realität unmöglich machen. Um der reinen Erkenntnis willen war Menasses Ausflug nach Toronto womöglich überflüssig.

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