: Die illegale Idylle von Çirali
aus Çirali ANTJE BAUER
Sami Ilgaz ist der Bürgermeister eines Dorfes, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. „Die Häuser hier sind alle illegal, denn es besteht absolutes Bauverbot“, räumt er ein. „Vor Jahren sind mal ein paar abgerissen worden, da hatten wir einen herzlosen Landrat. Aber der neue ist in Ordnung, der tut so etwas nicht.“ Und so regiert Sami Ilgaz ein Dorf mit Dutzenden Pensionen und Hotels, mit Kramläden und Restaurants, Souvenirgeschäften und Swimmingpools.
Noch bis vor 25 Jahren war Çirali nicht mehr als ein Orangenhain, 70 Kilometer westlich der südtürkischen Großstadt Antalya gelegen und durch vier Kilometer holprigen Asphalts mit der viel befahrenen Küstenstraße verbunden. Ein besonders schön gelegener Orangenhain freilich: Im Süden läuft er in eine drei Kilometer lange Bucht mit Sandstrand und glasklarem, türkisblauem Meer aus, von drei Seiten wird er von einer bewaldeten Hügelkette umschlossen. An einem Ende der Bucht stehen zwischen Oleandersträuchern die Ruinen eines griechischen Hafens aus vorchristlicher Zeit. Das kleine Tal gehörte zu dem Naturschutzgebiet Beydaglari, aufgrund der Ruinen stand es unter Denkmalschutz. Daher das Bauverbot. So zirpten tagsüber die Grillen, und in der Nacht gruben im Sommer Meeresschildkröten Löcher in den Sandstrand und legten dort ihre Eier ab.
Ende der Achtzigerjahre begannen Touristen, sich für den idyllischen, abgelegenen Flecken zu interessieren. Und die Bauern begannen, sich für den Tourismus zu interessieren. Sie machten sich daran, Häuser zu bauen. Einstöckige, weiß gekalkte Bauernhäuschen, die sich unter die Orangenbäume duckten. Die Gendarmen sahen sie doch. Gegen die ehemaligen Bauern und frisch gebackenen Pensionswirte wurden Verfahren eingeleitet. „Wir haben eine Geldstrafe bezahlen müssen, wie alle hier“, sagt Ayșe*, die in Çirali eine Pension betreibt. „Manche haben sogar eine Gefängnisstrafe abgesessen. Aber man hat das in Kauf genommen. Es ist der Preis dafür, ein Haus bauen zu können.“ Wer seine Strafe bezahlt hatte, wurde in Ruhe gelassen, das Haus blieb stehen. Bis er auf die Idee kam, es erweitern zu wollen oder eine weitere Pension zu bauen. Dann kam die nächste Strafe. Manche wurden auch nicht zur Rechenschaft gezogen. „Es gibt Leute hier, die haben die Gendarmen bestochen. Die sind nicht vor Gericht gekommen“, sagt Ercan*, ein Restaurantbesitzer. „Andere kannten die richtigen Leute in der Regionalverwaltung. Die mussten auch nicht bezahlen. Mit Recht hat das alles nichts zu tun.“
Da das Bauen ohnehin verboten war, gab es keine Bauvorschriften. So plante jeder nach seinem Geschmack und seinem Geldbeutel. Der eine setzte ein zweites Stockwerk auf sein Haus, der andere errichtete ein Hotel mit drei Stockwerken, einer baute aus Holz, der andere aus Stein. Am schmaleren Teil des Strandes entstand eine ganze Zeile von Restaurants.
Die Touristen kamen. Denn die Ruhe und Idylle von Çirali hoben sich angenehm von den Bettenburgen ab, in die sich die großen Touristenorte im Umkreis von Antalya verwandelt hatten. Morgens wachten die Gäste vom Krähen der Hähne auf. Zum Frühstück aßen sie Eier von Hühnern aus Çirali und Marmelade aus den Orangen des Ortes. Dass die Straße ins Dorf sehr kurvig und etwas holprig war, nahmen die Touristen in Kauf, und die Meeresschildkröten störten nicht, die gruben ja nur nachts.
In den Neunzigerjahren entdeckten Umweltschützer vom WWF Çirali und seine weltweit vom Aussterben bedrohten Caretta-caretta-Schildkröten. Türkische Naturschützer schickten Aktivisten ins Dorf und entwickelten ein Projekt für umweltfreundlichen, nachhaltigen Tourismus, das auf einer Zusammenarbeit mit den Einwohnern fußen sollte. Das Projekt lief von 1997 bis 2000 und gewann in Japan einen Preis der UN-Organisation Habitat als Modell für die künftige Entwicklung der türkischen Mittelmeerküste.
In der Tat hinterließ das Projekt einige Spuren im Dorf. Nachts patrouillieren in den Sommermonaten Mitglieder der örtlichen Kooperative den Strand entlang, um frisch gelegte Eier der Wasserschildkröten aufzuspüren und einen schützenden Käfig über sie zu stülpen. Nur hindert niemand tagsüber die Kinder daran, diese Schutzkäfige als Spielhüttchen zu verwenden. Die Restaurantzeile am Strand ist mehrere Meter landeinwärts verschoben worden, um die Schildkröten nicht zu stören. Am Zugang zum Strand steht ein großes Schild, in dem zahlreiche Verbote aufgeführt sind, die dem Schutz der Caretta caretta und ihrer Sprösslinge dienen sollen: Es ist verboten, am Strand Auto zu fahren, im Sand zu graben, dort Feuer zu machen, Sonnenschirme in der Nähe des Meeres aufzupflanzen, Hunde frei laufen zu lassen.
Nur kümmert das niemanden so recht. Wer lässt sich schließlich gerne im Urlaub gängeln? Und welcher Einheimische vergrätzt schon gerne seine Gäste? „Die Bevölkerung hier hat das Projekt nicht angenommen“, sagt Ercan, der Restaurantbesitzer. „Sie konnte mit all den neuen Ideen nichts anfangen.“
Der wichtigste Teil des Pilotprojekts war der Bebauungsplan, der erstellt wurde. Er enthält ein Verzeichnis sämtlicher Gebäude, die im Laufe der Jahre illegal errichtet worden sind. Er legt fest, wie die Häuser auszusehen haben, die in Zukunft in Çirali gebaut werden. Und er beinhaltet eine Trennungslinie. Die Häuser, die dieseits der Linie stehen und praktisch den Dorfkern bilden, sollen legalisiert werden und stehen bleiben. Die Häuser, die jenseits liegen, sollen abgerissen werden. Um eine verspätete Legalisierung geht es also und verbindliche Regelungen für die Zukunft.
„Es fehlt noch die Unterschrift eines Beamten, dann tritt der Bebauungsplan in Kraft“, sagt Sami Ilgaz, der Bürgermeister. „Und dann werden alle außerhalb der Linie liegenden Gebäude abgerissen.“
Sagt er. Aber es dürfte sich Widerstand regen. Denn auf dem Sandstrand, abseits des Dorfes, wo früher nur vereinzelte Pinien standen, sind in den vergangenen Jahren neue Häuser entstanden. Die einen sind Baracken, feste Holzhäuser die anderen. „Pension“ oder „Hotel“ steht auf großen Schildern geschrieben, vor den Häusern parken dicke, neue Geländewagen. „Wenn man unsere Häuser abreißt, muss man ganz Çirali abreißen. Ganz Çirali ist illegal gebaut“, sagt Ahmet Dogan, der Inhaber eines der größten neuen Hotels am Strand. „Außerdem habe ich dieses Gelände gekauft von einem Bauern, der das Zilyet-Recht auf dieses Grundstück besaß.“
Zilyet ist eine Art Gewohnheitsrecht. Wenn jemand auf einem Stück öffentlichen Bodens eine Weile Pflanzen anbaut, bekommt er eine Art Nutzungsrecht für diesen Boden.
Die Einheimischen ärgern sich über die neuen Hotels. „Wir haben alle ohne Baugenehmigung gebaut, aber wenigstens auf unserem eigenen Grund und Boden. Die haben öffentliches Land besetzt und verdienen damit Geld“, empört sich Restaurantbesitzer Ercan. Auch das Zilyet sei erschlichen. „Da gehen Bauern hin und pflanzen ein paar Zucchini auf dem Land, bekommen das Zilyet-Recht, und nach ein paar Jahren verkaufen sie das Land, das ihnen nicht gehört.“ Dennoch will niemand gegen die neuen Pensionen vorgehen: „Deren Eigentümer haben bedeutende Unterstützer in den Behörden“, mutmaßt ein Dorfbewohner. „Wir wollen uns hier mit den Nachbarn nicht schlecht stellen, nachher gibt es nur Ärger“, sagt ein anderer.
Alle Alteingesessenen fürchten sich vor dem neuen Waldgesetz, das die türkische Regierung seit einigen Monaten vergeblich zu verabschieden versucht. Öffentliche Waldgebiete, die seit langer Zeit anderweitig genutzt werden, soll der Staat diesem neuen Gesetz zufolge verkaufen können. Dadurch erwartet sich die Regierung Zusatzeinnahmen. Außerdem, so mutmaßen Regierungskritiker, haben sich zahlreiche Amigos der Regierung solche Gebiete halb legal angeeignet und würden diese durch das Gesetz legalisieren können. Zweimal schon hat das Parlament das Gesetz gebilligt, zweimal hat Staatspräsident Murat Sezer dagegen sein Veto eingelegt. Wie es weitergeht mit dem Gesetz, ist unklar. „Wenn das neue Gesetz durchkommt, werden lauter Leute von außerhalb hier teures Land kaufen, und wir gehen leer aus“, fürchtet Ayșe, die Pensionsbesitzerin.
Ahmed Dogan, der Eigentümer eines Hotels am Strand, hofft hingegen auf das Gesetz. „Wenn es durchkommt, werden wir alle die Gelegenheit erhalten, unser Terrain dem Staat abzukaufen“, sagt er. „Für uns ist das gut, weil die Situation legalisiert wird, und für den Staat ist es gut, weil er Geld einnimmt.“
Aber die Lage ist unklar. „Der Sandstrand zählt nicht zu den Waldgebieten und ist somit vom neuen Gesetz gar nicht betroffen“, sagt ein Anwalt. „Der Strand darf nicht verkauft werden. Aber das Schatzamt hat das Recht, Teile eines Strandes für eine begrenzte Zeit zu verpachten. Wenn die Dorfbewohner sich daran stören, müssen sie dagegen klagen.“
Ein türkischer Urlauber klagt bereits, allerdings nicht vor Gericht, sondern vor anderen Urlaubern. Nicht weit von den neuen Gebäuden entfernt hat er im Schatten eines Busches am Strand ein großes Zelt aufgeschlagen. Irgendwoher bezieht er Strom, deshalb steht neben dem Zelt ein großer Kühlschrank im Sand, über dem Zelt baumelt eine nackte Glühbirne. „Ich verbringe schon seit Jahren meinen Sommerurlaub hier am Strand“, klagt der Mann. „Jetzt werden immer mehr Häuser hier hingebaut, und für unsereinen bleibt bald kein Platz mehr.“ Dass auch er illegal campt, kommt ihm nicht in den Sinn. Illegal sind immer nur die anderen.
Dem Zelt gegenüber steht eine Baracke. Außenherum ein paar zarte Pflänzchen. Im nächsten Jahr schon werden die Pflänzchen und die Baracke ein bisschen größer und stabiler sein. Dann wird ein Zaun darumgezogen werden wie um die anderen Pensionen auch. Und dann wird ein weiteres Stückchen Strand leise in Privateigentum übergegangen sein.
*Namen geändert
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