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Durchhalten im Luftschloss

Das war Mitte (1): Erst wurden Häuser besetzt, dann kam Techno dazu, die Clubs und Bars, schließlich der ganze Kunstbetrieb. Am Ende hat der Mitte-Intellektuelle herausgefunden, dass das neue Leben nur über teilnehmende Beobachtung funktioniert

Tagsüber lernte er das Häuserbauen, nachts begab er sich in die Trümmerlandschaft

von TOBIAS RAPP

Es gibt ihn ja immer noch, den Mitte-Intellektuellen. Man trifft ihn bei Ausstellungseröffnungen in den Kunst-Werken, er sitzt in der Volksbühne, wenn dort wieder einmal ein Themenwochenende stattfindet oder wenn eine nur Eingeweihten bekannte Band auf der großen Bühne Krach macht. Dann sitzt er meist im Foyer links neben dem Eingang, hält seine Brille in den Wind und hat etwas Schlaues zu sagen. Auch im Kaffee Burger kann man ihn treffen oder im Rio, manchmal sogar im White Trash, wo er von den anwesenden amerikanischen Szenetouristen lustigerweise für einen typischen Deutschen gehalten wird und sie mit ihm ihren Schabernack treiben.

Aber er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Denn die große Zeit des Mitte-Intellektuellen, wie man ihn der Einfachheit halber nennen könnte (oft wohnt er auch in Prenzlauer Berg oder im Friedrichshain, mittlerweile sogar manchmal in Kreuzberg), ist vorbei. Wie auch die große Zeit von Mitte vorbei ist, auch wenn allerorten das Gegenteil verkündet wird. Oder besser gesagt: Eine große Zeit ist vorbei. Schließlich fallen große Zeiten nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht, und solange es Menschen gibt, werden sie diese Fähigkeit auch nicht verlieren.

Auch der Mauerfall wurde von Menschen gemacht, wenn es auch dem Mitte-Intellektuellen so vorkam, als sei er vom Himmel gefallen. Wobei er natürlich noch gar nicht existierte, als die Mauer fiel. Doch jene Mitte, die sich da öffnete, jene provisorische Stadt war der Ort, an dem er wurde, was er eine Zeit lang war. Die Geschichte hat ein Fenster geöffnet, so schien es ihm, nun musste man nur in das Gebäude einsteigen. Dass das Haus mitunter noch bewohnt war, fiel nicht ins Gewicht. Im Gegenteil, es steigerte den Reiz. Alles schien neu zu sein, auch die Geschichte.

Andererseits stand der Mitte-Intellektuelle tiefer in der Schuld der Achtzigerjahre, als er selbst wahrhaben wollte. Auch er las die kleinen Merve-Bändchen, auch er war tief von der Überzeugung durchdrungen, dass Begriffe Werkzeuge sein sollten, dafür gemacht, je nach Bedarf genutzt zu werden. Allerdings kam dem Mitte-Intellektuellen sein ganzes Umfeld vor wie eine große, verrottende Lagerhalle. Die Begriffswerkzeugkiste musste nicht gegen etwas in Stellung gebracht werden. Man konnte sie benutzen, um die eigene Lebenswelt mit seinen Gedanken zu verschrauben.

So war der Urtyp des Mitte-Intellektuellen auch der Architekturstudent. Tagsüber saß er in der Uni und lernte die Kunst des Häuserbauens in Projekten, die ihm die Illusion gaben, Berlin neu bauen zu können. Abends und nachts begab er sich in die Trümmerlandschaft der Potenzialitäten, schaute sich um und versuchte zu verstehen.

Bei diesen Wanderungen landete er unweigerlich und ziemlich regelmäßig in den zahllosen illegalen Clubs, die sich in dieser Landschaft breit gemacht hatten. In diesen Räumen entstand der zweite Typus des Mitte-Intellektuellen, der Techno-Denker. Auch für ihn war gerade etwas passiert. Techno nämlich. Eine neue Musik, die scheinbar all die Sicherheiten, die in der Popmusik vorher gegolten hatten, auf den Müllhaufen der Geschichte getreten hatte. Auch das wollte verstanden werden. Wollte mit neuen Gedanken umtänzelt, in neue Traditionslinien eingepasst und verbal umspielt werden.

Diese Musik wurde von Maschinen gemacht. Ein Umstand, der es nahe legte, sich mit Computern zu beschäftigen. So entstand die dritte Form des Mitte-Intellektuellen: der Internet-Denker. Denn auch jenes Internet war in den frühen Neunzigern noch keineswegs im Bewusstsein aller angelangt. Im Gegenteil, es war ein Raum, der einem in seiner Virtualität vorkommen konnte wie jenes Viertel, in dem das Haus stand, in dem der Computer stand. Es war ein Raum, der einem auch deshalb so neu und aufregend vorkam, weil es durchaus nicht der Norm entsprach, damals überhaupt nur einen Telefonanschluss zu haben. Straßenzug für Straßenzug wurde verkabelt, und wenn dies auf der einen Seite eine gewisse Form von Klandestinität abschaffte – auf einmal war man schließlich erreichbar –, so eröffnete dies auf der anderen Seite auch neue Möglichkeiten. Auch hier gab es eine vorgegebene Struktur, die zu verstehen hieß, sie zu verändern.

Und noch eine vierte Form des Mitte-Intellektuellen bildete sich heraus. Etwas später als die anderen, aber immer noch dem Möglichkeitsraum des Nach-Wende-Berlin verpflichtet: der Kunst-Denker. In einer gewissen Art befand er sich in der Defensive, weil Kunst schon ein strategisches Moment in der städtischen Umstrukturierung darstellte. Als man sich Räume nicht mehr einfach so nehmen konnte, musste man sich zu Galerien erklären, um sie zu bekommen. Mit den bekannten Folgen. Trotzdem war auch der Kunst-Denker zutiefst durchdrungen von dem Bedürfnis, sich in ein verstehendes Verhältnis zu diesem großen Abenteuerspielplatz zu setzen, als der Berlin sich all den Menschen präsentierte, die bereit waren, es so zu sehen.

Das war der Mitte-Intellektuelle – kein klassischer Intellektueller. Er engagierte sich nicht, und er wurde von niemand engagiert. Er stand herum, er tollte herum, er war Teil des Ganzen und gleichzeitig Beobachter.

Das war es dann auch, was ihn fundamental von all den traurigen Gestalten unterschied und immer noch unterscheidet, die sich einige Jahre später im Hotel Adlon zusammenfanden, um dort über das Ausbleiben von Erfahrung zu fabulieren. Das war ein Problem, das der Mitte-Intellektuelle gar nicht verstehen konnte: Es passierte doch permanent etwas, die möglichen Erfahrungen lagen doch auf der sprichwörtlichen Straße, und Nacht für Nacht versuchten hunderte von Menschen, sie zu erhaschen. Wie konnte man sich da in ein Luxushotel zurückziehen, dort die Verbunkerung der eigenen Existenz bejammern und die daraus resultierende Traurigkeit dann auch noch als eine königliche adeln? Das sollte eine Generationserfahrung gewesen sein?

Irgendwie realitätsentrückt und armselig kam es dem Mitte-Intellektuellen vor, aber da hatte auch er seinen Zenit schon überschritten und seine Verwunderung darüber, wie ernst dieses Adlon-Gerede genommen wurde, mischte sich mit der Scham, die kulturelle Hegemonie kampflos den Neokonservativen gleichen Alters überlassen und sein existenzielles Besserwissen nie eingesetzt zu haben, um diesen Leute entgegenzutreten.

Tatsächlich kann man sich die Frage stellen, warum von dem Mitte-Intellekuellen eigentlich so wenig überliefert ist, wo man denn irgendwas nachlesen kann, welche Bücher man diesem Zirkel zuordnen könnte. Doch da kann man lange suchen und wird nicht fündig werden.

Das Medium des Mitte-Intellektuellen war das Gespräch. Betrunken an der Bar, aufgeputscht in der Küche, nüchtern auf einer Parkbank. Ohne es zu wissen, hatte der Mitte-Intellektuelle Angst davor, die flüchtige Schönheit seiner Umwelt durch Verschriftlichung zu verfestigen. Das wäre ihm vorgekommen wie eine Profanisierung. Stattdessen konstruierte er aus seiner zum Verschwinden verdammten Umgebung Luftschlösser, die von der gleichen Flüchtigkeit waren wie der Atem, der sie in die Luft entließ. Seine Theorien waren wie die Konzertplakate, die über den Wahlkampfwerbungen zur letzten Volkskammerwahl klebten, die wiederum an Häuserwänden hingen, auf denen irgendwo im Putz neben Einschusslöchern noch die Schriftzüge für längst vergessene Geschäfte standen: Verdammt, von der anstehenden Sanierung weggewischt zu werden und in die individuelle Erinnerung einzugehen.

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