jazzkolumne: Auf Tour: Sun Ras Erben
Sun Ra ernannte sich 1952 zum Bürger des Saturn und verkündete das Space-Zeitalter
Knoel Scott wohnt in der Sun Ra Residence. Einem alten kleinen Haus in der Morton Street in Philadelphia, wo die Bewohner sich selbst kümmern müssen, wenn die Basics mal nicht funktionieren. Auf Knoels Visitenkarte steht: Tonwissenschaftler. Der Saxofonist und Sänger ist 52 Jahre alt und kannte Sun Ra noch persönlich; wenn man ihn fragt, was er so tut, wenn er nicht mit dem Sun Ra Arkestra tourt, erzählt er von Noten, die transkribiert und arrangiert werden müssen. Knoel Scott verfügt über keine gut gefüllten Konten, keine lukrative Immobilien, keinerlei Altersvorsorge, nicht mal Tantiemen aus den vielen Platten mit den handgemalten Hüllen – das einzige, was Sun Ra seinen Musikern hinterlassen hat, sind Berge von Noten und Tonbändern und einen Eindruck, der auch 16 Jahre nach seinem Tod noch wirkt.
Scott ist der persönliche Assistent des Arkestra-Leiters Marshall Allen, der seit Ende der Fünfzigerjahre mit der Musik Sun Ras verbunden ist und als einer der Erfinder der freien Improvisation im Jazz gilt. Der Saxofonist Allen wird im Mai 85 Jahre alt, auch er wohnt mittlerweile in der Sun Ra Residence. Zu fünft sind die Herren dort momentan und kaum ein Satz vergeht ohne dass zwei Namen fallen: Sun Ra und The Creator.
Sun Ra (1914–1993) war der Missionar, der sich 1952 zum Bürger des Saturn ernannte, gekommen, um das Space-Zeitalter zu verkünden. Als er „die Kinder der Sonne“ für sich entdeckte, kamen anthropologische Spekulationen über das alte Ägypten als die Geburtsstätte der Zivilisation seiner Absicht entgegen, eine Lösung für die unter Armut, Segregation und Rassismus leidende schwarze Bevölkerung der USA zu finden. Offiziell wechselte der Pianist seinen Namen Herman Poole Blount in Le Sony’R Ra nach dem ägyptischen Sonnengott Ra, sein Jazzorchester nannte er später Arkestra, The Myth Science oder Solar Arkestra. Bevor Marshall Allen in das Arkestra aufgenommen wurde, hatte Sun Ra ihn mit ägyptischer Mythologie, schwarzem Spiritualismus und Science-Fiction vollgequatscht. Das macht Allen heute nicht mehr so. Das Arkestra glich früher zeitweilig einer straff geführten afroamerikanischen Musikersekte. Bis heute blieb die Überzeugung, dass eine Art göttlicher, außerirdischer Wille die Klangdiener lenke.
Früher kamen die Leute, um Sun Ra zu sehen. Mit den Antennen auf dem Hut, den lustigen Kostümen, der Multimediaperformance mit Lightshow, Film und Tanz – heute sind davon die farbenfrohen Space-„Uniformen“ und die Musik geblieben. Zwischen geordnetem Improvisationschaos klingen Zitate aus der Swing-Ära an, Arrangements von Fletcher Henderson möchte Allen dann so getreu wie möglich gespielt wissen.
Scott vergleicht Sun Ras Rolle in der Geschichte der US-amerikanischen Musik mit der Duke Ellingtons und Billy Strayhorns. Nur ein exklusiver Kreis ist heute in der Lage, die Musik Sun Ras überhaupt zu spielen. Und der wird aus Altersgründen immer kleiner. Allen hat zwar neue Musiker ausgebildet und ins Arkestra aufgenommen, von der aktuellen 11-köpfigen Tourbesetzung haben fünf Musiker noch persönlich mit Sun Ra gespielt, doch es scheint, dass diese Musik sich vor allem aus dem Erinnerungsvermögen Allens speist.
Musikalisch klang der eigenartige Mix aus Black-Cosmic-Swing, Elektronik, Bebop und Avantgarde bestimmt schon spannender als bei der aktuellen Arkestra-Ausgabe. Und doch ist Allen über die Neuzugänge der letzten Jahre froh. Besonders wenn diese sich in seiner Nähe aufhalten.
Der jüngste, der heute mit ihm in der Sun Ra Residence wohnt, ist der Pianist Farid Barron. Anfang des Jahrzehnts führte Barron mit der Band von Wynton Marsalis die Werke von Duke Ellington auf und träumte von einer Mainstream-Jazzkarriere, heute gibt er dem Arkestra mit Intros aus Ragtime, Blues und Cluster Halt. Barron berichtet, wie Sun Ras Musik ihm geholfen habe, persönliche Tiefpunkte zu überwinden. Er wohnt seit vier Jahren im Sun-Ra-Haus. Die Musiker, die dort leben, haben Familienleben und Scheidungen hinter sich und seien auf der Suche; er habe einen neuen Sinn gefunden, sagt Barron.
Allen spricht vom inneren Klang. Er weiß, dass Töne heilen können. Die Last des Alltags, Probleme, die sich nicht lösen lassen. Karriere und Geld interessieren ihn nicht, „ich habe nie etwas gehabt, das kann man mir also auch nicht nehmen“, sagt er. Allen hat gespürt, wie die Musik das Leben zum Guten wenden kann. Musik ist für ihn das definitive Heilmittel. Und wenn Marshall Allen heute von seiner Familie spricht, meint er die Männer, mit denen er in Sun Ras Haus zusammenwohnt.
CHRISTIAN BROECKING
Berlin (27. 3.), St. Ingbert (28. 3.) und Freiburg (30. 3.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen