: Zähnefletschende Unschuld der Welt
Reise ins Herz der Finsternis: Anne Zielke haucht mit „Arraia“ der Gattungsform der Novelle neues Leben ein
Eine lange Reise ist es, die Wilmar Olaf Hegenberg angetreten hat. In einem abgelegenen Ort mitten im brasilianischen Dschungel will der junge Theologiestudent sein Priesterpraktikum machen. Ungeduldig hat er Atlanten gewälzt, Reise- und Missionarsberichte verschlungen, von eigenen Expeditionen auf Flüssen geträumt.
Doch gleich nach der Landung auf einer staubigen Piste irgendwo im Urwald erlebt er eine Enttäuschung. Sein Studienkamerad Georg Santin, der schon zwei Wochen vor ihm angereist ist, eröffnet dem Neuankömmling, dass sie sich mit ihrer geplanten Unternehmung noch ein wenig gedulden müssen.
Schon bei ihrer ersten Begegnung offenbaren sich unausgesprochene Vorwürfe und unterschwellige Spannungen, die zwischen den beiden ungleichen Charakteren herrschen: hier der ehrgeizige Vernunftsmensch Hegenberg, der stets die Kontrolle über sich bewahrt und in jeder Angst oder Unannehmlichkeit eine Prüfung sieht, die es zu bestehen gilt; dort der doch eher träumerische, launische Santin, dem bei aller Schüchternheit etwas Aufreizendes, Trotziges anhaftet.
Als man die Deutschen bittet, einen Leprakranken auf dem Boot in seinen Heimatort zu begleiten, wittern die beiden endlich das lang ersehnte Abenteuer. Doch statt in der Einsamkeit der Wälder näher zusammenzurücken, geraten Hegenberg und Santin bei dem geringsten Anlass aneinander. Santins Geständnis, er habe ein Verhältnis mit einer Brasilianerin, bestärkt den regeltreuen, „im Geistigen verbeamteten“ Hegenberg in seinem Urteil über den unbeherrschten Kommilitonen, lässt ihn aber zunehmend auch am Sinn des eigenen freiwilligen Verzichts auf körperliche Liebe zweifeln. Mit seiner Ablehnung starrer Regeln, die menschenverachtend seien und nur den Instinkt betäubten, hat Santin einen Stachel in Hegenbergs Fleisch gesetzt, der langsam sein Gift entfaltet. Scheinbar harmlose Anspielungen auf die Schwächen des anderen, Gereiztheiten und kleine Streitereien münden schließlich in einem Hass, der sich eines Morgens explosionsartig entlädt.
Meisterhaft gelingt es Anne Zielke, die spannungsreiche Atmosphäre auf dem engen Kanu, die in merkwürdigem Kontrast zu der Gleichförmigkeit von Natur und Klima steht, in Worte zu fassen. Die 1972 geborene Journalistin, die sich mit einer preisgekrönten Reportage über eine russische Überlebende einer Flugzeugkollision einen Namen gemacht hat, beweist mit ihrem literarischen Debüt ihr feines Gespür für die dramatische Inszenierung einer unerhörten Begebenheit. Von der ersten Seite an webt die Autorin ein dichtes Geflecht aus Anspielungen, Vorausdeutungen und Symbolen, das bei aller scheinbaren Bewegungslosigkeit der Handlung eine Katastrophe schon früh ahnen lässt.
Plötzlich aber zieht das Tempo an, die Ereignisse überstürzen sich, und der endlos sich windende Fluss, auf dem das Boot der beiden tagelang träge dahingeglitten ist, verwandelt sich unversehens in einen reißenden Strom. Was als Abenteuer vor exotischer Kulisse geplant war, gerät plötzlich zu einer Reise ins Herz der Finsternis, die beide Figuren im Innersten erschüttert und nicht als dieselben zurückkehren lässt. Auf äußerst schmerzhafte Weise müssen die jungen Theologen erfahren, „dass der vermeintlich sichere Boden des Endlichen, Sinnhaften und Verständlichen nur eine dünne, gefrorene Schicht auf etwas anderem, Unsagbarem war“.
Neben der bis ins letzte Detail ausgefeilten Dramaturgie beeindruckt das Buch durch seine klare, nahezu klassische und nur sehr selten manieriert wirkende Sprache. Ihr ganzes Können beweist die junge Autorin durch bestechend scharfe Natur- und Landschaftsaufnahmen, in denen die prächtige Schönheit des Urwalds, aber auch das Unheimliche dieser fernen „Welt zähnefletschender Unschuld“ zutage tritt. Überraschend stilsicher bedient sie sich bewährter Sprach- und Formenmuster, ohne dabei je ins Epigonale abzugleiten. Mit „Arraia“ hat es Anne Zielke vermocht, der altgedienten literarischen Gattungsform der Novelle neues Leben einzuhauchen.
MARION LÜHE
Anne Zielke: „Arraia“, Novelle. Blumenbar Verlag. München 2004, 119 Seiten, 16 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen