: Regeln und die Lust, sie zu brechen
Heute eröffnen in Lübeck die 45. Nordischen Filmtage mit einem Programm, das endlich ganz Nordeuropa von Grönland bis Russland abdeckt. Dank Lars von Trier ist in diesem Jahr das dänische Kino besonders präsent
Nun hat es wirklich fast alle weit nördlich gelegenen Länder und Landstriche an Bord, das bedeutendste Filmfestival des nordischen Films außerhalb Skandinaviens. Die über hundert Spiel-, Dokumentar-, Animations-, Kinder- und Kurzfilme, die auf den 45. Nordischen Filmtagen von heute bis zum 2. November zu sehen sind, kommen schließlich aus Grönland, Island, Deutschland, den skandinavischen und baltischen Staaten sowie aus Russland, das durch eine Kooperation mit dem Festival des osteuropäischen Films in Cottbus nun auch vertreten ist.
Besonders präsent in Lübeck ist dieses Jahr – wie kürzlich erst beim Hamburger Filmfest – das dänische Kino, nicht zuletzt auch wegen der momentanen Produktivität des Dogma-Begründers Lars von Trier. Ist der Regelfanatiker doch außer an dem bereits gestarteten Dogville noch an zwei weiteren Filmen des Programms maßgeblich beteiligt gewesen. Zum einen ist dies Dogville Confessions, das knapp einstündige, von Sami Saif gedrehte „Making of“ von Dogville. Dieses besteht – wie schon der Trailer zum Film – fast ausschließlich aus direkt in die Kamera gesprochenen kleinen Monologen der Schauspieler, von Nicole Kidman über Lauren Bacall bis zu Stellan Skarsgård. Von Big Brother inspiriert, hatte Saif dafür eigens eine so genannte Confession Box am Drehort aufgestellt, eine Art Beichthäuschen, in dem die Darsteller je nach momentaner Stimmung ihrem Leid oder ihrer Freude an der Arbeit mit dem zumindest anstrengenden Lars von Trier Ausdruck geben durften – und dies auch freimütig taten.
Bei dem in Venedig uraufgeführten The Five Obstructions hat von Trier dann wieder einmal seiner Vorliebe fürs Regelnaufstellen nachgegeben. Er überredete den von ihm hoch geschätzten Dokumentarfilmer Jørgen Leth, fünf Remakes von dessen eigenen, 1967 gedrehten Kurzfilm Der perfekte Mensch zu drehen, nach Regeln die Lars von Trier vorgab, versteht sich. So durfte einmal keine Einstellung länger als eine halbe Sekunde dauern, ein anderes Mal musste es ein Animationsfilm werden (eine Filmform, die beide verachten) und ein weiteres Mal musste am unangenehmsten Drehort der Welt gefilmt werden. Man entschied sich für das Rotlichtviertel von Bombay. Vorgaben, die Leht mit erstaunlicher Bravour gemeistert hat.
Auch durch die Gespräche der beiden Regisseure über den künstlerischen Schaffensprozess wird der Film zu einer zugleich vergnüglichen und aufschlussreichen Reflexion übers Filmemachen. Ebenfalls zu sehen: Lehts ganz nach eigenem Gusto in langen Tableaus gedrehter Neue Szenen aus Amerika, der an seine 66 Szenen aus Amerika von 1982 anschließt.
Lars von Tier wiederum hat unter dem Titel Dogumentarism kürzlich fünf allgemeine Regeln für Dokumentarfilme aufgestellt, um diesen vom „Ballast der dramaturgischen und technischen Möglichkeiten zu befreien“. Danach sollen Bild und Ton nicht mehr manipuliert werden dürfen und auch keine versteckten Kameras mehr erlaubt sein.
Nach Lübeck kommen und darüber diskutieren wird der Däne freilich nicht, dafür aber kein geringerer als Richard Leacock, der in den 60er Jahren mit Filmen wie Primary über John F. Kennedys Wahlkampf das Direct Cinema begründete. Das Filmforum Schleswig Holstein, in dem dort produzierte Filme laufen, eröffnet gar mit einem Dokumentarfilm, Marc Boettchers umfassend recherchiertem Strangers in the Night – Die Bert Kaempfert Story.
Aus Schweden kommt Mikael Håfströms viel versprechende, in den 50er Jahren in einem Internat spielende Coming-of-Age-Geschichte Das Böse. Aus Island der mit ebenso vielen Vorschussloobeeren bedachte Nói Albínói von Dagur Kári um einen Jungen der ein Albino ist. Auf der ganz sicheren Seite ist man als Zuschauer natürlich in der Retrospektive: Der Produzent – Das unbekannte Wesen, in der, als einer von vieren, Jörn Donner geehrt wird, der Bergmans Fanny und Alexander produzierte. Eckhard Haschen
Das komplette Programm unter: www.luebeck.de/filmtage
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