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In der Vorhalle der Macht

Die Vorgeschichte zum argentinischen Staatsbankrott: Fernando Solanas’ Film „Chronik einer Plünderung“

Der Film beginnt mit den Szenen vom Ende. Am 19. Dezember 2001 versammeln sich hunderttausende Argentinier auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, um gegen die Regierung zu protestieren. Die Polizei riegelt den Präsidentenpalast ab, die Demonstranten rufen „El pueblo no se va“, das Volk wird nicht weichen. In einer schnellen Montage von Bildern schlägt die fröhliche Feier in eine Straßenschlacht um. Die Polizei beginnt mit Tränengas und scharfer Munition in die Menge zu schießen. Die Bilanz: über 30 Tote, zahlreiche Verletzte und tausende Verhaftungen. Der Ausnahmezustand, den Präsident Fernando de la Rúa verhängt, wird ihm selbst zum Verhängnis. Erst reicht sein Wirtschaftsminister den Rücktritt ein, dann er selbst. In den nächsten zehn Tagen werden zwei weitere Regierungen stürzen.

Die lange Vorgeschichte dieser gedrängten Ereignisse zeichnet „Memoria del saqueo – Chronik einer Plünderung“ von Fernando Solanas nach. Der Film ist ein Protokoll der sozioökonomischen und politischen Entwicklungen des Landes über zwei Jahrzehnte. Ausgerechnet im Jahr ihrer Volljährigkeit, 18 Jahre nach dem Sturz der Militärdiktatur 1983, erlebte die junge Demokratie ihre schwerste Krise. Doch eigentlich, so der Tenor des Films, habe sich seit der Zeit der Diktatur wenig verändert: Die Ausbeutung eines Landes durch korrupte Machteliten ist geblieben, nach wie vor herrscht die Oligarchie. Nachdem in den Neunzigerjahren unter dem neoliberalen Wirtschaftsprogramm Carlos Menems profitable staatseigene Betriebe und Ressourcen an multinationale Konzerne verschleudert worden waren, verlor die Bevölkerung gleich doppelt. Öffentliche Investitionen in die Infrastruktur blieben aus, was an Geld zur Tilgung der enormen Schuldenlast ausgegeben wurde, strich man Krankenhäusern, Schulen, Sozialeinrichtungen.

Das globalisierungskritische Kino hat das Problem, dass es sich zur Darstellung komplexer und weitgehend abstrakter gesellschaftlicher Zusammenhänge in der einen oder anderen Weise zu den Bildern verhalten muss, die millionenfach in den Medien der Weltpresse verbreitet werden. Im Fall der Krise von Argentinien wären das zerbeulte Kochtöpfe, Straßensperren und berittene Polizisten.

Am Tag des Rücktritts von de la Rúa ging Solanas mit seiner Kamera auf die Straße. Dass er aber nicht die immer gleichen Bilder von Straßenschlachten machen würde, war ihm schnell klar. Statt auf medienwirksame Tumulte oder auf Politikeransprachen blickt Solanas hinter die Kulissen: Er zeigt uns die Leere dieser Kulissen. Immer wieder fährt die Kamera durch die menschenleeren Räume, Gänge und Vorhallen der Macht, etwa des Präsidentenpalastes, wo dicke Teppiche jedes Wort dämpfen. Abwesend sind in diesen Bildern die Mächtigen selbst. Sie erscheinen in Bronze gegossen oder als Ölgemälde an der Wand, während Bedienstete die Tische abstauben. Die Macht hat eine lange Tradition, der Armut und der Abhängigkeit hat noch niemand ein Denkmal gesetzt.

Solanas, der selbst vier Jahre als Abgeordneter im argentinischen Parlament saß und nur mit Glück ein Attentat überlebte, spricht deutliche Worte und nennt die Namen der Verantwortlichen. Leider drohen die radikale Rhetorik von „Mafiokratie“ und „sozialem Genozid“ sowie der Vergleich der Demokratie mit den schlimmsten Zeiten der Militärdiktatur zuweilen eine präzise Analyse der Verhältnisse zu ersetzen. Dennoch hat Solanas ein beeindruckendes filmisches Statement zur politische Lage seines Landes geschaffen und dabei auch für sich eine Erkenntnis gewonnen: „Ich musste feststellen, dass ich mit meinen Filmen mehr erreichen kann als in der Politik.“

DIETMAR KAMMERER

„Memoria del saqueo – Chronik einer Plünderung“. Regie: Fernando Solanas, Argentinien 2004, 118 Min.

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