: Kartonmenschen
Der argentinische Dokumentarfilm „El tren blanco“ zeigt den Überlebenskampf der Papiersammler in Buenos Aires
Es geht um die Lücke zwischen Macht und Ohnmacht. Kurz vor dem Jahreswechsel 2001/2002 konnten wir hierzulande in den Nachrichten Bilder sehen von wilden Plünderungen in argentinischen Supermärkten. Ein Land in der Krise. Die Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsrate liegt bei 45 Prozent.
Der jetzt anlaufende Film „El tren blanco“ der jungen argentinischen FilmemacherInnen Nahuel Garcia, Sheila Pérez Giménez und Ramiro García zeigt informelle Organisationsformen der „Cartoneros“, der Kartonmenschen auf der untersten Stufe der argentinischen Gesellschaft, die, ohne Arbeit und Sozialhilfe, völlig auf Selbstorganisation angewiesen sind. Ein weißer, verschlissener Vorortzug mit Waggons ohne Sitze bietet Platz für diese Papiersammler und ihre Einkaufswagen und Sackkarren, mit denen sie alles, was vom Konsum übrig bleibt, zusammensuchen und an Recyclingfirmen weiterverkaufen. Allabendlich kommen sie aus dem Umland, den Vororten, nach Buenos Aires und fahren kurz vor Mitternacht zurück.
Die privatisierte Bahn hat den „Cartoneros“ diesen Zug zur Verfügung gestellt, damit sich die Passagiere in den Vorortzügen nicht belästigt fühlen, nachdem im Laufe der Neunzigerjahre immer mehr Prekarisierte zu dieser einzigen Möglichkeit des Gelderwerbs greifen mussten. Allein für die Bezahlung der Zugfahrkarten müssen sie eine Woche im Monat arbeiten. Während der Dreharbeiten im Dezember 2001 waren es pro Nacht 250 Wagen und Karren, die befördert wurden.
Fernando E. Solanas kürzlich angelaufener Film „Die Stunde der Plünderung“ umreißt die Hintergründe dieses Phänomens für Argentinien: eine korrupte Polit-Oligarchie, die in Zusammenarbeit mit Konzernen und Banken, einhergehend mit dem Zugriff des Internationalen Währungsfonds, und unter Abschöpfung immenser Schmiermittel, das Land zu immer höherer Verschuldung und damit zum Bankrott geleitet hat. Dazu kamen Privatisierungen, die das Land seiner Ressourcen beraubten: Sozialisierung der Verluste und Privatisierung der Gewinne.
Was Solanas Film als Hintergrund liefert, fehlt „El tren blanco“. Dafür aber sprechen die „Cartoneros“ als Experten ihrer eigenen sozialen Situation, und das allein schon macht den Film zu einem eindrucksvollen Dokument. Der Film möchte gar nicht mehr, ist mit einfacher, mobiler DV-Kamera gedreht und folgt einer Arbeitsnacht der Kartonmenschen ohne Kommentar, außer gelegentlichen Musikeinschüben, die haarscharf an der Elendsmelodramatisierung vorbeisegeln.
Wer doch noch mehr wissen will, dem sei übrigens das demnächst erscheinende Buch „City of Coop“ von „metrozones“ empfohlen. Das Buch beschäftigt sich mit aus der Not geborener ökonomischer Selbstorganisation und mit städtischen Bewegungen am Beispiel von Buenos Aires und Rio de Janeiro. Ein langes Interview mit einem „Cartonero“ der Cooperative Nuevo Rumbo ergänzt die Bilder von „El tren blanco“.
Denn inzwischen gibt es Dutzende von „Cartonero“-Kooperativen in Argentinien, und die Kartonmenschen überlegen sich kollektiv, wie sie größere Existenzsicherung dieser „schutzlosen Tätigkeit“ erreichen und ihre Position gegenüber den Zwischenhändlern stärken können. MADELEINE BERNSTORFF
„El tren blanco“. Regie: Nahuel García, Sheila Pérez Giménez und Ramiro García. Argentinien/Spanien 2003, 80 Minuten. OmU. Bis 3.11., tgl. 18.45 Uhr, Central 2, Rosenthaler Str. 39, Mitte. „City of COOP – Ersatzökonomien und städtische Bewegungen in Rio de Janeiro und Buenos Aires“. Hg. v. Stephan Lanz. Reihentitel „metroZones 5“ (hg. v. Jochen Becker und Stephan Lanz). b_books, Berlin 2004
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