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christoph schultheisDas Kreuz mit den Zitaten

Will Boris Becker gern zu Grunde gehen? Ob beim Beischlaf oder bei Johannes B. Kerner: Wer mit dem Goethe spielt, kommt darin um

Vielleicht wissen Sie’s ja längst. Möglich ist das. Schließlich geht es um eins der größeren Missverständnisse unserer abendländischen Kultur. Um Boris Becker auch, ja. Und um den Pakt mit dem Teufel. Oder Johannes B. Kerner. Ganz wie Sie wollen. Doch wenn auch Sie in dieser Woche weder am Dienstag noch am Mittwoch noch am Donnerstag noch am Freitag und damit, anders als rund 1,5 Millionen andere, kein einziges Mal eingeschaltet haben, als Becker beim Kerner ein Dauergast war, sind Sie hier genau richtig.

Denn dass der Boris ein Buch über sich hat schreiben lassen, wissen Sie. Das Buch ist am Montag erschienen. Wahrscheinlich kennen Sie sogar den Titel. Womit wir endlich bei der Sache mit dem Missverständnis wären. Wer kennt sie schließlich nicht, diese Momente, in denen man sich wünschte, dass die Zeit stehen und uns der ganze andere Scheiß gestohlen bliebe?

Ob bei Kerzenschein übers Barolo-Glas hinweg, beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern oder mitten im Geschlechtsverkehr – je nachdem eben, wann wir’s gerade mal am Schönsten finden, dann kann es (in der Zeit stand jüngst das Wörtchen „Halbintellektuelle“) schon mal passieren, dass aus dem Spaß am ach so schönen Hier und Jetzt ein Seufzer wird: „Augenblick, verweile doch …“ Oder etwa nicht? Was klingt wie ein vertrautes „Faust“-Zitat, ist nämlich keins. Nicht so! Faust war ein Streber. Und darum liest sich die viel zitierte Stelle in Goethes O-Ton auch, na ja, wie folgt: „Werd ich“, so Faust beim Seelenverkaufsgespräch zu Mephisto, „zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! /Dann magst du mich in Fesseln schlagen / Dann will ich gern zu Grunde gehn!“ Und wenig später wird’s noch unumwundener: „Nur keine Furcht,“ sagt unser Faust, „dass ich dies Bündnis breche! / Das Streben meiner ganzen Kraft / ist grade das, was ich verspreche.“ Verdammt wichtige Sätze sind das. Für Goethe, für unsere abendländische Kultur – und eben das genaue Gegenteil unserer halbintellektuell dahergeseufzten Sehnsucht nach dem ultimativen Loop des Lebens.

Das Becker-Buch heißt aber trotzdem so: „Augenblick, verweile doch …“ Außerdem hat Becker selbst grad neulich erst bei „Wetten, dass …?“ erklärt, dass er die schönen Momente gern festhielte und bewahrte und so weiter. Hernach hat er sich eine ganze Woche lang Tag für Tag für Tag zum Johannes B. ins Fernsehen gesetzt mit seiner immer gleichen Scheißfrisur, den immer gleichen Anekdoten und der verbissen-geldgetränkten Weltläufigkeit, als hätten die Uhren wirklich aufgehört zu ticken! Nun ist die Woche rum, und Beckers Erstauflage (135.000 Exemplare!) ausverkauft. Blut aber ist angeblich keins geflossen.

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