: Wahnsinn und Krise
Im sicheren und vertrauten Alltag zeigt sich, wie selbstverständlich die Anpassung an bestimmte Normen vollzogen wird – Eiko Grimbergs „Folie du Jour“ bei Klemm’s in der Brunnenstraße
VON MAIK SCHLÜTER
„Der Wahnsinn des Tages“ nennt Maurice Blanchot (1907–2003) einen 1973 veröffentlichten Text. Der französische Kritiker, Journalist, Literaturtheoretiker und Schriftsteller ist hierzulande wenig bekannt, obwohl er maßgeblichen Einfluss auf die französische Literatur und Philosophie hatte. Der Text verhandelt den schmalen Grat zwischen sogenannter Normalität und Wahnsinn und gibt die assoziativen und vermeintlich ins Wahnhafte gekippten Gedanken und Empfindungen einer Person wieder. Das Ganze liest sich wie eine Tagebuchaufzeichnung, die das Hineingleiten in eine Psychose dokumentiert. Blanchot beschreibt den Widerspruch zwischen der subjektiven Logik innerer Wirklichkeit und den äußeren, rationalen Widerständen.
Wie eine Gesellschaft Wahnsinn definiert und wie sie mit den vermeintlich Irren umgeht, ist eine zentrale Fragestellung der gesellschaftspolitischen Diskussion der 1960er- und 1970er-Jahre, die etwa durch Michel Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ einen wichtigen theoretischen Impuls erhielt.
Soziale Initiativen wie die Anti-Psychiatrie-Bewegung oder das Sozialistische Patientenkollektiv forderten vor mehr als dreißig Jahren nicht nur eine Reform der Psychiatrie, sondern eine grundsätzliche Abkehr von den althergebrachten Begriffen. Auch wenn Maurice Blanchot sich nicht eindeutig auf diesen Kontext bezog, lässt sich seine Erzählung in diesen historischen Zusammenhang einordnen.
Der Berliner Künstler Eiko Grimberg fasst die Arbeiten seiner aktuellen Ausstellung unter dem Titel „Folie du Jour“ zusammen und präsentiert dazu Auszüge aus Blanchots Text, deren Betonung auf dem Konflikt zwischen Individuum und Institution liegen. Eine Videoprojektion zeigt Ausschnitte des Großstadtalltags: Passanten, die zur Arbeit gehen, in Wohnhäusern verschwinden, Zeitungen kaufen, im Waschsalon sitzen oder am Geldautomaten warten. Das tägliche Leben ist in den kurzen Sequenzen fest organisiert, Funktionen und Abläufe sind vollkommen klar und werden von niemand in Frage gestellt.
Aber gerade in diesem sicheren und vertrauten Alltag zeigt sich, wie selbstverständlich die Anpassung an bestimmte Normen vollzogen wird, wie wenig der Gebrauch der Dinge und die eingenommenen Rollen zur Diskussion stehen.
Grimberg liefert als Tonspur die Textauszüge, die er auch an der Wand zeigt. Allerdings wurde der Text auf einen Anrufbeantworter gesprochen. Undeutlich und unangenehm klingt die Stimme, die von teils beklemmenden Gefühlen der Verfolgung, des Wahns und der Einsamkeit spricht. In dieser Überlagerung von Ton und Bild verdichtet sich das Gefühl, dass das, was zu sehen ist, der Ausgangspunkt für das Desaster der unbekannten Sprecherin ist. Es gibt keinen direkten Ansprechpartner, die Sprecherin muss mit dem Anrufbeantworter kommunizieren. Kein Blick, kein Wort, das ihr entgegenkäme. Das Gespräch wird zum Monolog.
Grimberg erweitert das Ausstellungsset durch zwei Fotografien. Auf einer zeigt er den einsamen Blick aus dem Fenster eines Zimmers als klassisches Schwarz-Weiß-Bild. Das Motiv ist ein feststehendes Sujet der Fotografie und eine Referenz an traditionelle Formen der Erzählung. Hier gibt es noch einen Moment von Romantik, der in allen anderen Teilen der Ausstellung nicht vorkommt. Die zweite Fotografie folgt einer ganz anderen Rhetorik und erinnert an die komplexe Bildsprache eines Viktor Burgin. Perspektivisch verkürzt werden die Werbedisplays zweier Bushaltestellen abgebildet.
Beworben werden Wege aus der ökonomischen Krise. Eine Bank betitelt sich selbst als Geldinstitut, das der Krise widersteht. Die andere Werbung zeigt eine Frau im Bikini, die vor dem Poster eines Palmenstrandes in einem ansonsten eher kargen Raum sitzt. „Sag nein zur Krise“ steht unter dem Bild. In der verzerrten Logik der Werbung bilden aufgeklebte Fototapeten den Hintergrund für die Selbstsuggestion, künftig in einer krisenfesten Gesellschaftsordnung zu leben. Um Individualität und Freiheit zu empfinden, muss man nur den richtigen Vertrag unterzeichnen, sich den offiziellen Versprechungen hingeben und seine Pflichten erfüllen. Im Rahmen dieses Gesellschaftsvertrages ist Verrücktsein tatsächlich eine Frage der sozialen Definition und der politischen Auffassung.
Bis 9. 5., Klemm’s, Brunnenstraße 7, Di.–Sa. 11–18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen