: Damals im Wilden Osten
Heute vor 15 Jahren demonstrierte am Alexanderplatz eine halbe Million Menschen für eine andere DDR. Unter ihnen befanden sich auch einige Westberliner. Eindrücke vom deutsch-deutschen Demonstrationstourismus kurz vor dem Mauerfall
NOTIERT VON UWE RADA
„Im Gegensatz zu vielen Bekannten aus Westberlin bin ich am 4. November 1989 auf den Alexanderplatz gegangen. Das Interesse im Westen an den Entwicklungen in der DDR war sehr gering, auch unter den Linken. Ich selbst war schon öfter in Ostberlin gewesen, auch wegen meines Bruders. Wir kommen aus Großbritannien, und mein Bruder hat im Rahmen seines Studiums in Ostberlin gelebt. Er hat dort Englisch unterrichtet. Deshalb hatten wir auch Kontakt zu Leuten in Ostberlin.
Die Proteste in der DDR haben wir von Anfang an verfolgt. Wir sind auch schon zu den Demos gegen den 40. Jahrestag der DDR rübergefahren. Am 7. und 8. Oktober hatte die DDR zwar die Grenzen zu Westberlin dicht gemacht. Aber wir sind über Potsdam gefahren und dann ganz außenrum.
Der 4. November aber war unheimlich beeindruckend. Was mich am meisten erstaunt hat: Die Leute wollten zuhören, sie wollten etwas erfahren. Bei uns haben sie auf den Demos nie zugehört. Aber dort standen sie sogar Schlange, um ein schlecht gedrucktes Flugblatt in die Hand zu kriegen.“ MED DALE
„Ich hab die Demonstration schon ganz am Anfang beobachtet, als sich die Leute am Marx-Engels-Forum versammelt haben. Der Zug war dann unendlich riesig und lang. So etwas hatte ich in Ostberlin noch nie gesehen, aber auch nicht im Westen. Auch die Stimmung war anders. Die Leute waren ruhig, aber entschlossen. Es gab wenig Gebrüll, manchmal war es auch fröhlich.
Als am Alexanderplatz dann die Reden losgingen, habe ich mir überlegt, ob ich da nicht auch hinsoll, zum Rednerpult, ob nicht auch einer aus dem Westen was sagen sollte. Aber dann dachte ich mir, das ist die Sache der Leute aus dem Osten. Hinterher habe ich sehr bedauert, dass die Leute in den Monaten danach nicht weiterhin auf einer eigenständigen Entwicklung bestanden haben.“
HANS-CHRISTIAN STRÖBELE
„Ich glaube, man hat die Teilnehmerzahl mit 500.000 überschätzt. Als ich zum Alexanderplatz gekommen bin, bin ich erst mal den Fernsehturm hoch. Und da sah alles ein wenig anders aus, gar nicht mehr so riesig. Ich kann schon sagen, dass ich eine gewisse Demoerfahrung hatte und beim Schätzen der Teilnehmerzahlen immer ganz gut lag. Das waren meiner Meinung nach nicht mehr als 100.000, die da zusammengekommen waren.
In die Höhe gegangen sind die Teilnehmerzahlen erst in den Westmedien, erst auf eine halbe Million, dann auf 750.000 und manchmal sogar auf 1 Million. Das war das Wunschdenken des Westens. Aber auch sonst fand ich die Stimmung eher mau. Ich hatte den Eindruck, dass es den Hauptstädtern der DDR eher darum ging, mit Leipzig gleichzuziehen, den Heldenstädtern zu zeigen, dass auch in Berlin was los ist.“ DIETMAR BARTZ
„Die Stimmung war ganz anders, als man es aus dem Westen kannte. Es war eine andere Welt. Man wusste nicht so recht: Passierte da jetzt was? Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wie es an diesem Tag, aber auch danach weitergehen würde. An einen bevorstehenden Fall der Mauer habe ich zu keiner Zeit gedacht. Deshalb bin ich am Morgen des 9. November auch zu meinen Eltern nach Westdeutschland gefahren.“ MARTINA SCHREY
„Ich bin halb aus privatem, halb aus politischem Interesse hingegangen. Ein Freund von mir war im Organisationskomitee der Demo. Seine Tochter war am 7. und 8. Oktober festgenommen und schikaniert worden. Als ich am S-Bahnhof Friedrichstraße ausstieg, war die erste Überraschung, dass wir überhaupt reinkamen.
Der zweite Eindruck Unter den Linden war: Hier sind viele Uniformierte, das wird nicht ohne Brisanz sein. Es war auch offensichtlich, dass ein möglicher Durchbruch der Menge zur Mauer verhindert werden sollte. Ich bin also durchaus mit gemischten Gefühlen die Linden runter zum Palast der Republik gegangen.
Von der Demo selbst ist mir bis heute vor allem ein Geräusch in Erinnerung geblieben. Es ist das Knirschen der Schritte auf der Straße. Die Leute waren still, sie haben geschwiegen, sie riefen keine Parolen, das war irgendwie bedrückend. Als dann aber die Reden am Alexanderplatz begannen, habe ich das als eine sehr offene Situation empfunden. Doch die Nervosität blieb, auch in den Augen der Demonstranten.“
HANS-HERMANN HERTLE
„Es war ein unglaublich aufregender Tag. Ich bin mit einer Freundin extra aus Hamburg angereist. Wir sind dann mit dem Auto in die DDR, war alles kein Problem. Aufgefallen ist mir vor allem die Aufbruchstimmung: all die witzigen Plakate, dieser plötzliche Ausbruch von Humor. Und natürlich war auch das Gefühl dabei, Geschichte live zu erleben, das Prickeln auf der Haut. Es herrschte eine unglaubliche Bewegung unter den Leuten – für viele war das ja der erste Widerstandsakt überhaupt. Von den Sicherheitskräften habe ich mich zu keiner Zeit bedroht gefühlt, ganz anders als bei vielen Demos im Westen.
Wir haben dann auf der Demo auch noch Klaus Schlesinger [oppositioneller DDR-Schriftsteller, der inzwischen verstorben ist; d. Red.] getroffen. Der hat uns erzählt, dass er Honecker mal im Fahrstuhl getroffen hat. An den Fall der Mauer hat keiner gedacht, allenfalls, dass die Grenze nun etwas durchlässiger wird.“
UTE SCHEUB
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