: Notstandshilfe für den Westen
Die Mülldeponie Schönberg war schon zu DDR-Zeiten eine beliebte Anlaufstelle westdeutscher Entsorger. Hier konnten sie den Wohlstandsmüll unkompliziert und ohne nervige Bürgerinitiativen loswerden
Lange bevor die Mauer im Jahr 1989 gefallen ist, waren die Deutschen in Ost und West schon im Müll vereint. Wie bei vielen großen Dingen hatte es einmal ganz klein angefangen. Im Jahr 1978 kratzen geschäftstüchtige westdeutsche Unternehmer zusammen mit DDR-Außenhandelsexperten in der Grasnarbe des Grenzgebietes.
Mit Maschinenpistolen bewaffnete Grenzsoldaten beobachteten das Schauspiel. Es ging um Kies für Bauprojekte im Westen. Der Bagger wurde in diesem Frühling fündig. In Sichtweite der Hansestadt Lübeck kam neben Kies jedoch auch Geschiebemergel zum Vorschein. Statt für den Kiesabbau entschied man sich für ein ganz anderes Geschäft. Es entstand die legendäre Deponie Schönberg im nordwestlichsten Zipfel der DDR, vor den Toren Lübecks.
Es war damals gut für alle Beteiligten. Im Westen nervten die aufkommenden Grünen und chaotische Bürgerinitiativen die Politiker und Umweltbehörden. „Entsorgungsnotstand“ herrschte, Deponieraum war knapp. Müll gab es zu viel – aber niemand hatte Bock auf eine Müllkippe hinter seinem Gartenzaun. Die Deponie Schönberg in der DDR war eine Erlösung: keine nervigen Auseinandersetzungen mehr mit Bürgerbeteiligung (so etwas kannte das DDR-Recht nicht), einfach nur Ausfuhrgenehmigungen erteilen und weg mit dem ganzen Scheiß in die Zone. Das war eine wirklich gelungene Umsetzung der „Politik der kleinen Schritte“ von Kanzler Helmut Schmidt. Den Rest, also die ganze praktische Umsetzung, erledigten rein geschäftlich Bauunternehmer Adolf Hilmer von der Hanseatischen Baustoff-Kontor GmbH in Lübeck und Eberhard Seidel (alias IM „Siegfried“) von der KoKo-Firma Bergbau und Handel GmbH des Imperiums von Schalck-Golodkowski in Ostberlin.
Viele Millionen Tonnen Müll türmten sich bis 1989 auf der Deponie. Wenn überhaupt etwas in der DDR-Wirtschaft wirtschaftlich funktioniert hat, dann war es auf jeden Fall der Müllimport. Für jedes Problem gab es eine Lösung, egal ob Hausmüll aus Bayern, Flugasche aus Hamburg, Sondermüll aus Holland, giftige Erde aus Italien. Die Deponie Schönberg wurde zum Klo des gemeinsamen Hauses Europa, von dem Ende der 80er-Jahre so gern geredet wurde. 1989 wurde dann wirklich ein Rekordjahr. Mehr als 1,2 Millionen Tonnen Müll kamen aus dem Westen nach Schönberg. Und die Menschen verließen das Land.
Und dann war auf einmal die Mauer weg. Nanu? Menschen und Müll waren wieder im gleichen Land. Dabei hatte sich niemand körperlich bewegt, obwohl sich so viel verändert hatte. Nur die Lübecker brauchten sich nicht umgewöhnen (typisch, wieder die im Westen); sie konnten auch nach der Vereinigung ganz gewohnt weiterzittern um ihr gefährdetes Grundwasser. Alles andere ging weiter. Politiker wechselten einfach den Genehmigungstisch: Statt den Export in Schleswig-Holstein bewilligen, konnte man jetzt als Verwaltungshelfer den Import im neuen Land Mecklenburg-Vorpommern reibungslos unter Dach und Fach bringen.
Die Freunde Seidel und Hilmer blieben auch nach der Wende dicke Freunde. Firmennamen wechselten ein wenig, das Geschäft lief erst mal weiter. Dummerweise konnte jetzt aber auch im Osten protestiert werden. Doch erst nach gut zehn Jahren und endlosem Hin und Her schaffte es das Land Mecklenburg-Vorpommern, die Deponie zu übernehmen, allerdings trägt es nun auch alle Risiken der Sanierung.
Inzwischen hat sie den belasteten Namen gewechselt, heißt nun Deponie Ihlenberg, beschäftigt 121 Mitarbeiter und macht 30 Millionen Euro Einnahmen im Jahr. Die jährlich rund 400.000 Tonnen Müll kommen fast alle aus der Region. Der Betrieb sponsert den Naturschutz und ein Heimatmuseum. Und ist natürlich auch ein enorm wichtiger Steuerzahler.
Die heutige Deponie-Prokuristin Katrin Hase war 23 Jahre alt, als die Mauer fiel. Die alten Kader Hilmer, Seidel & Co. hat sie nie persönlich kennen gelernt. Auf den alten Teilen der Deponie blühen im Frühling die Landschaften, obwohl Herr Kohl nie da gewesen war. Hier ist zusammengewachsen, was zusammengehört. MATTHIAS BAERENS
MATTHIAS BAERENS (37) arbeitete schon in der kirchlichen Umweltbewegung in der DDR zum Thema Müllimport. Fünf IMs kümmerten sich damals um ihn. Heute kümmert er sich um seinen Buchversand und Verlag in Schwerin ( www.baerfuss.de ).
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