: Freiheit und Überlebenskampf
Estlands Künstler mischen bereits vor dem EU-Beitritt in der europäischen Kunstszene mit. Beispiele dafür sind das kürzlich veranstaltete „Labor“-Projekt vom Goethe-Institut Tallinn oder eine Berliner Foto-Ausstellung in der Galerie Giedre Bartelt
VON KATJA WINCKLER
Die massige Frau liegt schlafend im Bett. Das billige Nachthemd ist heraufgerutscht. Nur ihr entblößter Hintern ist zu sehen – ein großes Stück weißes Fleisch. Auf einem Schild neben der Fotografie schildert sie drastisch mit vielen „F“-Worten den ehelichen Beischlaf und bekommt auf einmal ein Gesicht, auch wenn es der Betrachter nicht sehen kann. Dies ist eine von mehreren „Second-Hand-Liebesgeschichten“ der estnischen Künstlerin Mare Tralla. Unter dem Titel „(un)dressed“ werden zum zweiten Mal Fotoarbeiten aus dem Baltikum in der Galerie Giedre Bartelt ausgestellt. Statt aus Litauen kommen die Künstler diesmal aus Estland.
Die Frau im Bett ist Mare Tralla selbst. Wie ihre amerikanische Kollegin Cindy Sherman ist sie in unterschiedliche Rollen geschlüpft. Mal trägt sie Reizwäsche, mal schmuddelige Liebestöter und kreiert mit Hilfe von Ich-Erzählungen fiktive Liebesgeschichten von Frauen. Die Kleidungstücke kamen Anfang der Neunzigerjahre als Spende aus dem Westen. Viele Klamotten waren ungewaschen. Da kam Tralla auf die Idee, sich vorzustellen, was sich für Liebesgeschichten dahinter verbergen. Die 36-jährige Künstlerin lebt in Tallinn und London. Sie gehört einer Künstlergeneration an, die sich im Aufbruch befindet. Jahrzehntelang war die Darstellung des Körpers in der Kunst durch die sowjetische Zensur eingeschränkt gewesen. Und Fotografie galt in Estland lange Zeit nicht als Kunst. Seit Mitte der Neunzigerjahre hat sich das geändert.
Tallinn, die Hauptstadt des kleinsten der drei baltischen Länder, befindet sich im Aufbruch. Die Altstadt ist perfekt saniert. Gassen, Plätze und Kirchen sind fest im Griff von McDonald’s, Adidas- und Nike-Läden. Das lockt Westtouristen. Modisch gekleidete junge Esten flanieren durch die Stadt. Das täuscht darüber hinweg, dass es in den Vororten voller trister, sozialistischer Wohnblocks anders aussieht. Die Öffnung zum Westen, die der herausgeputzte Stadtkern symbolisiert, gilt auch in künstlerischer Hinsicht, denn mittlerweile mischen Tallinns junge Künstler in der europäischen Kunstszene mit.
Der Wunsch nach Öffnung trennt die Generationen
Ende September hatten sich Tänzer, Performer, Musiker, Choreografen und Multimediakünstler aus Estland, Deutschland und Frankreich auf Einladung vom Goethe-Institut und dem Französischen Kulturzentrum in Tallin getroffen. Zwei Wochen lang arbeitete das Berliner Künstlerduo Wilhelm Groener, die Gruppe Cie Skalen aus Marseille sowie das Duo S.P.A. an ihrem so genannten „Labor“-Projekt. Die Performance, die sich mit der Suche nach Visionen beschäftigte, wurde im Kanuti-Gildi-Saal aufgeführt. Das Off-Theater unter der Ägide von Priit Raud hat sich dem zeitgenössischen Tanz verschrieben und gilt in Tallinn neben dem VAT- und dem Von-Krahli-Theater als Vorreiter für die Kunst von morgen.
Die jungen Künstler wollen aus den Grenzen heraustreten, sagt die dreißigjährige Tänzerin Katrin Essenson nach der Aufführung. „Wir wünschen uns neue Perspektiven.“ Dass dieser Wunsch zugleich auch die estnische Gesellschaft teilt und Generationen voneinander trennt, beschreibt ihr Kompagnon Taavet Jansen: „Wir wollen als Künstler die Welt mit unseren Augen beschreiben. Auch auf die Gefahr hin, dass wir von unserer Elterngeneration nicht mehr verstanden werden.“ Der Berliner Theaterregisseur Christian Römer, der in Tallinn zur gleichen Zeit mit dem VAT-Theater die Neubearbeitung des Musicals „Struwwelpeter“ inszenierte, bemerkt einen Riss zwischen den Generationen. Die Verlierer seien die Alten, sagt er. „In Estland herrschen krasse Widersprüche. Einerseits gibt es bauchfreie Kleidung, MTV und Reality-Shows. Andererseits stehen an vielen Straßenecken alte Mütterchen, die mühsam gepflückte Blumensträuße verkaufen, um sich ein Zubrot zu verdienen.“
Der anstehende EU-Beitritt, von vielen sehnsüchtig erwartet, hat eben auch seine Schattenseiten. Viele Esten fürchten den Verlust ihrer Eigenständigkeit, sagt der 24-jährige Performer Taavet Jansen. Er schildert das Dilemma so: „Wir werden viele Kompromisse machen müssen, aber wir haben keine andere Wahl.“ Der Überlebenskampf für Künstler sei härter denn je, so Jansen. Doch Regisseur Christian Römer hat auch positive Resonanz auf die neu gewonnene Freiheit erlebt: „Immer wieder höre ich von meinen Schauspielern, dass sie Stücke viel freier interpretieren können als früher. Strikte Ansagen gibt es nicht mehr.“
Das zeigen auch die Kunstwerke in der Galerie Giedre Bartelt. Ob die androgynen Porträts von Ly Lestberg, die Fotografien von Liina Siib, die die Grenzen zwischen Kind- und Erwachsensein ausloten, oder Mark Raidperes von Zigaretten verbrannter Körper. Sie zeigen das Leben ohne propagandistische Schnörkel: so schonungslos, wie es ist.
„(Un)dressed. Körper in der baltischen Fotokunst. vol. 2: Estland“, Galerie Giedre Bartelt, bis 31. Januar, Di.–So. 12–18 Uhr, Linienstraße 161, Mitte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen