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Rachelina macht sie alle glücklich

Sie ist in Neapel geboren und als Aupairmädchen nach Berlin gekommen. Ein langweiliges Professorenpaar hat sie rausgeschmissen, doch Rachelina blieb. Sie wohnte in besetzten Häusern, zelebrierte den Ersten Mai und fing an zu singen. Von Neapel und dem Süden Italiens träumt sie immer noch

VON HANS W. KORFMANN

Sogar die hoffnungslos klanglose Stimmkonserve ihres Anrufbeantworters, die darum bittet, nach dem Pfeifton eine Nachricht zu hinterlassen, lässt den erfolglosen Anrufer lächeln.

Vielleicht liegt das daran, dass der Himmel über Berlin oft grau ist – und dann sprudeln aus dem Hörer und mitten in den horizontlosen Alltag plötzlich diese schnellen italienischen Sätze, dann tauchen für einen Moment Bilder vom Markt in Genua oder vom Hafen von Neapel auf. Man ist der Stadt entrückt, versteht kein Wort mehr und ist glücklich darüber, dass da jemand in aller Eile zwischen dem Kochen und dem Blättern in einem Modejournal einige Worte auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Dann erst folgt der deutsche Teil der Ansage, und immer noch klingt das R in ihren Worten wie das Rollen der Brandung an einem sonnigen Mittelmeerstrand.

Rachelina ist betont italienisch. Sie achtet aufs Dekolleté, trägt Hut, Rock und feine Handschuhe, ein Stückchen Pelz auf den Schultern, das Ewigweibliche in Form eines Handtäschchens, ein kräftiges Rot auf den Lippen und ein Haar, so schwarz, dass die finsterste Nacht sich vor ihr fürchten würde. Sie liebt das Kochen und den Wein, und wenn sie essen geht, dann ins Colosseum oder in die Osteria, schon allein der traditionellen Begrüßung wegen: „Oh“, ruft der Wirt, reicht die Hand und deutet eine Verbeugung an, „buena sera, Signorina …“ – schon ist der Kellner zur Stelle, um der ewig jungen Frau aus der Jacke zu helfen, das hübsche Kleid zu loben und im rechten Augenblick einen kurzen Blick aufs wundervolle Dekolleté zu werfen.

„Es ist schön, wenn die Leute einen kennen. Vor allem in so einer großen Stadt.“ Rachelina kennt man, zumindest in Kreuzberg. „Manchmal grüßen mich fremde Menschen auf der Straße. Das ist schön. Dann fühle ich mich endlich zu Hause.“

Fünfzehn Jahre hat das gedauert. Jahre in einer immer noch etwas fremden Stadt. Obwohl Berlin und Neapel vieles gemein haben. „Drei Fahrräder haben sie mir hier schon geklaut. Das ist fast wie zu Hause!“

Aber natürlich vermisst sie die malerischen Wäscheleinen über den Gassen von Neapel. „Ich habe mir schon überlegt, ob ich im Hof nicht eine Schnur zum Baum spannen soll. Dann stünde auch dieser klapprige Wäscheständer nicht dauernd im Weg herum.“ Aber das wäre wohl Erregung öffentlichen Ärgernisses: Unterwäsche auf der öffentlichen Wäscheleine!

Die Deutschen sind ein bisschen steif. Ziemlich reserviert. Wenn Rachelina von ihnen spricht, dann zieht sie die Augenbraue in die Höhe wie der Zahnarzt bei der Entdeckung eines abgrundtiefen Lochs. „Natürlich“, räumt sie ein, „haben die Preußen auch ihre Vorteile.“ Sie geben weniger an und sind pünktlicher als Italiener. Aber was nützt die Pünktlichkeit, wenn sie nie Zeit haben. In Palermo – da ist sie geboren – oder in Neapel – da hat sie die frühe Kindheit verbracht – hat man immer Zeit für einen Kaffee. Man wäre kein Italiener, wenn man nicht mindestens einmal am Tag vor irgendeinem Straßencafé säße. „Obwohl man ja auch in Kreuzberg auf der Straße sitzen kann. Falls einmal die Sonne scheint.“

Aber das ist natürlich auch so ein Problem: wenn der Winter lang ist und das Licht über Berlin wieder einmal nur in Fingerhutportionen ausgeteilt wird. Dann ertappt sich Rachelina dabei, plötzlich mitten auf der Straße stehen zu bleiben und den Flugzeugen am Himmel nachzuschauen. Sie hat ein Haus in Apulien, ein Steinhaus aus dem 16. Jahrhundert, mit einer Terrasse aufs Meer hinaus und Fenstern, die auf die kargen Berge der süditalienischen Landschaft blicken. Wenn sie da nicht ab und zu sein könnte, dann würde sie durchdrehen.

Die Sehnsucht nach ihrer Heimat verließ sie nie. Doch Rachelina hat aus der Not eine Tugend gemacht. Sie hat das wilde, unbändige Gefühl gezähmt und kultiviert. Sie hat es beschworen, besungen – sie hat mit den „Canzoni Napoletane“ das Heimweh bezwungen. So wie schon einst ihre Mutter in der Küche in Padua, im fernen Norden Italiens. So stand auch Rachelina zwanzig Jahre später in Berlin in der Küche und sang. „Diese neapolitanischen Lieder können nämlich die Gefühle sehr genau auf den Punkt bringen. Und sie scheuen sich auch nicht, von Schmerz zu sprechen oder von der Liebe zu singen – anders als die deutschen.“ Deshalb grüßt man Rachelina auf der Straße. „Eigentlich“, lacht sie, „war es ausgerechnet dieses Gefühl, hier nicht hinzugehören, weshalb ich jetzt hier hingehöre!“

Gerade hat Rachelina ihre dritte CD aufgenommen und ihr erstes Lied komponiert. „Indifferente“ heißt es und handelt von zwei unterschiedlichen Charakteren: einem, der nichts verbergen kann, und einem, der gerade das besonders gut beherrscht.

Sie war 22, als sie nach Berlin kam, ein Aupairmädchen vom italienischen Lande. Das Professorenehepaar in der Villa am Wannsee gab ihr ein winziges Zimmer, 150 Mark Taschengeld im Monat und bezahlte die Sprachschule. Dafür kümmerte sich Rachelina um die Kinder, den Hund, das Haus und den Hof. „Die waren unvorstellbar langweilig, nach der ‚Tagesschau‘ um acht gingen sie schlafen.“ Die Ravioli kamen aus der Dose, und der Kaffee kam von Aldi. Sechs Monate lang blieb sie „das Fräulein“, sogar die Kinder durften ihren Titel nicht auslassen. Als die Familie im Sommer drei Tage zu früh aus den Ferien zurückkehrte und eine Freundin von Rachelina zu Besuch im eigenen Heim vorfand, wurde das Aupairmädchen umgehend entlassen.

Doch Italienerinnen sind trotzig. Rachelina band sich eine weiße Schürze um, arbeitete als Zimmermädchen und ging abends zur Schule. Sie hatte ein Zimmer im Studentenwohnheim, da wohnte nebenan dieser junge Mann mit den lila Latzhosen. Anfangs rümpfte der Alternative die Nase über das unpolitische italienische Mädchen mit der seltsamen Vorliebe für Kleider, Hüte und Spitzen. Erst als Rachelina die kostbaren Dessous mit einer Latzhose kaschierte, eröffneten sich dem Mann die Reize des jungen Mädchens. Rachelina glaubte an die Liebe ihres Lebens. Bis sie ihn zwei Jahre später mit einer anderen ertappte, ihrem Temperament freien Lauf ließ und die Wohnungseinrichtung zu Kleinholz verarbeitete. Italienerinnen sind auch oft zornig.

Die Zeit allerdings heilte die Wunden, und aus dem unschuldigen Mädchen wurde eine Berlinerin. Die langen, schwarzen Haare fielen der Schere zum Opfer, die Röcke landeten im Kleiderschrank, eine Lederjacke schützte vor Sonne, Regen und falscher Anmache. Sie zelebrierte den Ersten Mai, wohnte in Kreuzberg in einem der besetzten Häuser und gründete mit Freunden das Babylonia, einen Verein zur Förderung der Völkerverständigung. Zehn Jahre lang verdiente sie mit Italienischunterricht ihren Lebensunterhalt. „Ich habe meine ganze Jugend verschenkt in diesen feuchten Räumen der Kreuzberger Hinterhöfe!“, klagt Rachelina.

Doch immerhin war es auch einer dieser Hinterhöfe, wo sie einmal begannen, gemeinsam Musik zu machen. Wo Rachelina nicht mehr einsam die Tomatensoße besang, sondern Bossa Nova tanzte, und wo eines Tages der Gitarrist mit den Noten zu einem dieser alten neapolitanischen Lieder auftauchte, dieser musikalischen Beschwörung von den Städten und den Menschen Süditaliens, dieser Balladen, die ihre ärmliche Heimat mit den schönsten Worten besangen. Lieder, die mehr beitragen konnten zur Völkerverständigung als die nackte Sprache der Worte. Da stürzte der Turm zu Babel, da fand sie jene Stimme, auf die man hören sollte. Die Stimme der neapolitanischen Lieder. Die Jahre des Exils bekamen ihren Sinn und schienen Bestimmung.

Nun fiel es ihr wieder ein: wie sie schon als Kind heimlich im Schlafzimmer die Kleider ihrer Mutter anprobiert hatte. Sie erinnerte sich, wie sie als kleines Mädchen mit ihren Eltern von Neapel nach Padua gezogen war und wie man mit dem Finger auf die Familie gedeutet und gespottet hatte: „Da kommen die Neapolitaner.“ Und dass sie das einzige Mädchen in der ganzen Schule war, das „von dort unten“ aus dem Süden kam. Sie erinnert sich, wie die Lehrerin sie eines Tages aufstehen ließ und vor der gesamten Klasse rügte: „Solche Frisuren tragen nur Sängerinnen!“ Rachelina sah ein, dass sie in Padua fremd war, ebenso wie später in Berlin.

Zwei Jahre ist es her, als sie nach Hause reiste. Mit ihren Maccheronies, den verachteten „Spaghettifressern“, trat sie in Padua vor dreihundert Zuschauer. Und sang erhobenen Hauptes die Lieder aus dem verspotteten Süden. „Das erste Mal in meinem Leben war ich stolz, im Süden Italiens geboren zu sein.“ Die Norditaliener applaudierten begeistert. Und die Mutter, diese kleine Frau, die ein Leben lang unter ihrer Herkunft gelitten hatte, stand auf und rief mit ausgebreiteten Armen: „Sie kommt aus Palermo, sie kommt aus Palermo!“

Rachelina und die Maccheronies: Movene Natale, 16 Uhr, Tränenpalast, Reichstagufer 17

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