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Anti-Hörbücher

Umfangreiches Stimmenarchiv: Im supposé-Verlag erscheinen ausschließlich Originalaufnahmen, etwa von Hubert Fichtes Beat-und-Prosa-Lesung 1966 im Hamburger Star-Club. Ein Verlagsporträt

Was man bei supposé hört, soll anstrengen, das gehört zur VerlagsphilosophieDie Stimmen machen Theorien sinnlich erfahrbar und mitdenkbar

VON GUSTAV MECHLENBURG

Je dominanter die Mediengesellschaft, umso mehr sind wir von Stimmen umgeben. Wer Marcel Reich-Ranicki einmal live, im Fernsehen, im Radio oder auf CD gehört hat, der bekommt selbst bei zurückgezogener Lektüre seiner Bücher oder Artikel den speziellen MRR-Tonfall nicht mehr aus dem Ohr. Auch der Erfolg von Dieter Bohlens Biografie ist wohl kaum ihrer literarischen Qualität zuzuschreiben, dafür Bohlens medialer Dauerpräsenz. Deshalb hörte man die nuschelnden Ergüsse dann auch lieber gleich von CD, im Auto oder in der Toilette eines Clubs, und wollte gar nie mehr in die trübe Welt hinaus.

Selbstverständlich ist das nicht. Was sich bei Autorenlesungen und Komponisten-Dirigaten aufdrängt, kann man bei Hörbüchern schon gar nicht abweisen. So sind die Künstler selbst nicht notwendigerweise die günstigsten Interpreten ihrer Werke. Von Strawinsky lässt sich berichten, dass er seine Kompositionen, die mit vielen trickreichen Taktwechseln ausgestattet sind, aus einer entschärften Version für höhere Töchterschulen dirigierte. Das Interesse am O-Ton ist also primär kein Kunst-, sondern ein Künstlerinteresse.

Damit liegt man voll im Trend der allgemeinen „Verstarung“ breiter Bevölkerungsschichten. Nicht auf die Arbeitsergebnisse kommt es an, sondern auf ihr bühnenwirksames Abfeiern. Dass darunter das Material leidet, sprich: abgenutzt wird, interessiert dabei keinen. Eine Art akustischer Vampirismus ist mit dem Hörbuchboom entstanden, der nur notdürftig mit irgendeinem Interesse bemäntelt werden kann. Warum man sich nicht gleich ein Abo für Telefonsex mit Gedichten besorgt, weiß niemand. Beim Telefonsex sind es immerhin Professionelle am anderen Ende der Leitung, nicht Sexprofis, aber Akustikprofis.

Wie aber kommt man dazu, eine Tonaufnahme aus den Sechzigerjahren in miserabler Qualität auf CD gepresst anzuhören? Gewöhnt an die gut durchgeföhnten Stimmen der Radio- und Fernsehsprecher, ist man gerührt, wie nervös und gedrungen der Autor spricht. Die Rede ist von dem Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte, dessen legendäre Lesung „Beat und Prosa“, aufgenommen 1966 im Star-Club auf St. Pauli und von Philips kurz darauf auf Vinyl gepresst, der Kölner supposé-Verlag wieder herausgekramt hat.

Dabei hatte Hubert Fichte bereits reichlich Bühnenerfahrung. In jungen Jahren trat er als Kinderdarsteller an verschiedenen Theatern auf, am Deutschen Schauspielhaus, am Thalia Theater und an den Hamburger Kammerspielen. Live war seine Manuskriptlesung aus dem zwei Jahre später erscheinenden Roman „Die Palette“ sicher auch völlig adäquat, sprach er doch vor zweitausend Leuten, die überhaupt keine Ahnung hatten, was er eigentlich wollte, und die nur gekommen waren aus Neugier und Sympathie oder wegen der zahlreichen ihn begleitenden Beatbands.

Aber auf Konserven gezogen haben wir nun den Salat, dass das Flüchtige zur Repetition geronnen, wieder und wieder seine flache, angestrengte Mittellosigkeit offenbart. Und das Schlimme ist, man achtet bald überhaupt nicht mehr auf den Inhalt, sondern nur noch auf das nächste nervöse Krächzen des Vortragenden oder den nächsten Lacher aus dem Publikum. Der Philosophie des supposé-Verlags entspricht das durchaus.

Klaus Sander, der Leiter des außergewöhnlichen Projekts, veröffentlicht nach eigenen Angaben Anti-Hörbücher. Im Gegensatz zu üblichen Hörbuchverlagen, die bereits existierende Texte entweder von Schauspielern, Sprechern oder den Autoren selbst vortragen lassen – Sander bezeichnet solche Produktionen abwertend als „Prothesen der Buchverlage“ –, erscheinen bei supposé ausschließlich Originalaufnahmen. Sander will Audio als eine eigene künstlerische oder publizistische Form verstanden wissen. In aufwändiger Recherchearbeit wurde in Rundfunkarchiven, Sammlungen und Schallarchiven verloren Geglaubtes wieder entdeckt, oder neue Eigenproduktionen wurden veranlasst: Reden, Vorträge, Hörspiele, Audiokunst, Feldaufnahmen von Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, unter anderen Slavoj Zizek, Klaus Theweleit, Konrad Lorenz, Max Planck, Erwin Schröder, Heinz von Foerster, Albert Hofmann, Oswald Wiener, Michael Snow, Peter Roehr, Agentur Bilwet, Konrad Bayer, Heinz von Foerster. Und ganz aktuell zum Albert-Einstein-Jahr 2005 Originalaufnahmen des großen Physikers und Humanisten. In den wenigen Jahren seit Verlagsgründung ist daraus bereits ein enorm umfangreiches und einzigartiges Stimmenarchiv entstanden.

Angefangen hatte es 1996 mit einer Audioaufnahme von Villem Flusser, bei dem Sander studiert hatte. Aus eigener Lektüreerfahrung kam er auf die Idee, denjenigen, die den Philosophen und Medientheoretiker nicht selbst hören konnten, den Zugang zu erleichtern. Die Kenntnis von Flussers Stimme, seines Rhythmus beim Sprechen, hält der Verleger für elementar wichtig zum Verständnis von dessen nicht immer einfachem Werk. Die Stimmen „machen Theorien sinnlich erfahrbar, mitdenkbar“, heißt es denn auch in der Begründung des Deutschen Hörbuchpreises zur Auszeichnung von supposé als „besonderes Hörbuch 2004“. „Supposé“ heißt übersetzt „angenommen, dass …“, und so sympathisch in seiner undoktrinären Art gibt sich denn auch der Verlag.

Die Aufmachung der CDs ist geschmackvoll schlicht. Schnell glaubt man vielleicht, die Ambitionen und Prägungen der Macher erkennen zu können, aber hier wird nichts diktiert, nichts aufgedrängt, sondern tatsächlich ausprobiert. Was man zu hören bekommt, ist anstrengend und soll auch anstrengen. Pädagogisch ist das Vorhaben allemal. Wenn der Professor für Philosophie und Medientheorie Boris Groys in einer der neuesten Veröffentlichungen über das Medium Mensch spricht, ist die Situation eine ganz andere als bei Hubert Fichte. Jeder Akademiker wird sich erinnern, wie in den Vorlesungssälen Menschen damit beschäftigt waren, ihre Rekorder einzurichten. Vorn aufs Pult gestellt und abends noch mal abgehört oder sogar transkribiert. Das ist der väterliche Ton, die Schlaf bringende „Wissenheit“, die beruhigende professorale Autorität. Natürlich kann das kein Schauspieler so einfach nachmachen, aber vielleicht könnte ein Schauspieler ja mal einen wissenschaftlichen Text sprechen, der sich plötzlich seiner liderschweren Kompetenz entledigte.

Originalaufnahmen sind interessant für Soziologen, die nur am Geräuschpegel im Hintergrund die politische Lage ermessen mögen, interessant für Künstlerpsychogramme, interessant für alle, die sich mit Genuss und einem sicheren Gefühl für Häme die Versprecher reinziehen. Spannend sind die Publikationen von Originaltönen trotzdem. Denn ob Hubert Fichtes „Beat und Prosa“-Lesung beispielsweise nun tatsächlich die erste popliterarische Veranstaltung in Deutschland war oder mit Pop eben rein gar nichts zu tun hatte, darüber kann man nun auch als Nachgeborener mit denen streiten, die damals dabei gewesen und sich heute noch immer nicht einig sind.

Hubert Fichte: „Beat und Prosa. Live im Star-Club Hamburg 1966“. Musik: Ian & the Zodiacs, Ferre Grignard. Audio-CD, 60 Minuten, 18 €, supposé 2004 Boris Groys: „Im Namen des Mediums“. Audio-CD, 61 Minuten, 18 €, supposé 2004

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